Treuepunkte
besitze. Aber so kann ich definitiv nicht gehen. Ich halte den Kopf kurz entschlossen wieder unter die Brause (eine heikle Angelegenheit, wenn man schon fertig geschminkt ist) und beschließe, es mit Lufttrocknen zu versuchen.
Als Sabine klingelt, stehe ich mit nassem Haar da. »Oh, wet look«, begrüßt sie mich, »sieht sexy aus!« Ich packe eine Tube Gel in meine Handtasche, falls die Luft-Trocken-Version doch nichts wird. Farblich stehe ich Sabine heute Abend in nichts nach. Ich bin ganz in Türkis. Ohrringe, Schuhe (so hoch, dass ich Chancen hätte, einen Basketball-Korb ohne Sprung zu erreichen) und ein knappes Oberteil mit herrlichem Ausschnitt. Dazu eine weiße Hüfthose und eine kleine Jeansjacke. Wir sehen aus wie zwei Vorstadtfrauen, reif für die Disco. »Können wir los, Andrea?«, fragt Sabine mich. »Christoph ist noch nicht da«, bremse ich sie und wir setzen uns noch einen Moment ins Wohnzimmer. »O mein Gott«, sagt Sabine nur, als sie die Horde Kinder sieht. Sabine behauptet, Kinder zu mögen, aber mehr als zwei auf einem Haufen jagen ihr Angst ein. »Die sind so unberechenbar«, findet sie, »und so laut und so klebrig.«
Als ich Christophs Auto höre, verabschiede ich mich von meinem kleinen privaten Kinderhort, der seit etwa zehn Minuten beharrlich nach Nahrung verlangt. »Gleich kommt Papa, der macht euch was«, sage ich, wissend, dass europäische Vorstadtkinder selten so ausgehungert
sind, dass es auf Minuten ankommt. Mein Sohn Mark fragt noch, kurz bevor ich zur Tür gehe, ob die liebe schöne Frau von heute Mittag mal wieder käme, und ich könnte meinen Kopf einfach so gegen die Wand schlagen. Mark, der normalerweise schon auf dem Weg ins Obergeschoss vergisst, was er dort eigentlich wollte, erinnert sich nach einem zehnminütigen Zusammentreffen noch an Belle Michelle! Diese Frau ist tatsächlich eine fortwährende Prüfung für mich.
Ich trete mit Sabine schon mal vor die Tür, um mir jegliche Diskussionen im Haus zu ersparen. Wenn Christoph sieht, was da los ist, bezweifle ich, dass er mich einfach so gehen lässt. »Hallo Andrea, hallo Sabine«, sagt er nur und mustert mich gründlich. Gerade so, als müsse er mich später bei der Kripo beschreiben. Ein Blick, der durch Mark und Bein geht. Ob ihm gefällt, was er sieht, kann man allerdings an seinem Gesicht nicht ablesen. »Wo ist deine Michelle?«, ist das Einzige, was mich momentan interessiert. »Die musste noch was erledigen. Wenn überhaupt, kommt sie später«, informiert er mich und sieht dabei ganz traurig aus. Warum bloß? Weil ich weggehe oder weil Belle Michelle ihn hat hängen lassen? Hat die doch so was wie ein Gewissen oder hat ihr unser Haus nicht gefallen? Jetzt wäre der Moment da, um zu sagen: »Schatz, ich bleibe bei dir.« Ein Wort von ihm und ich lasse die Vernissage sausen. Es kommt aber nichts. Wir beide sind schlecht darin, den ersten Schritt zu machen. Brauchen wir eine Therapie? Eheberatung? Eben professionelle Hilfe? Oder interpretiere ich in seine offensichtlich schlechte Stimmung nur das rein, was mir am liebsten wäre? Wenn ich wüsste, ob er Helmuths SMS gelesen hat,
wäre ich mir sicherer. Aber wenn ich ihn das frage, ist der Abend mit Sicherheit gelaufen. Wieso ist dieser Mann nur so störrisch? Wieso kann der nicht mal über seinen Schatten springen? Merkwürdigerweise erwartet man von anderen gerne Dinge, die man selbst nicht bereit ist zu tun. Das muss ich allerdings schon zugeben.
»Tschüs, ihr zwei«, sagt Christoph und ich sage, schon halb auf der Straße, nur noch schnell: »Die anderen Kinder werden in einer viertel Stunde abgeholt. Spätestens.« Damit er schon mal eine leise Ahnung davon bekommt, was ihn drinnen erwartet. Wir gehen, aber ich fühle mich schlecht. Irgendwie mies. Der Saustall war für die Kombination Belle Michelle und Christoph gedacht. Ihm allein hätte ich das sicherlich nicht zugemutet. Obwohl – schon für die Absicht, die Qualle mitzubringen, hat er das verdient.
Ich bin wankelmütig. In der einen Minute möchte ich ihn in die Arme schließen, ihn abküssen und wünsche mir, dass alles wieder gut ist. In der nächsten Minute schmiede ich neue Rachepläne und lechze danach, ihn büßen zu lassen.
Sabine lenkt mich ab. Im Auto drückt sie mir voller Stolz die Vernissage-Einladung in die Hand. Zeichnungen und Installationen von Philipp Marker und Boris Heizner, zwei Absolventen der Kunsthochschule. Junge Künstler. Oh, das lässt ja einiges erwarten.
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