Treuepunkte
übrigens die Michelle.« Zur Begrüßung entblößt sie ihre winzigen Schneidezähnchen.
Sie sehen besser als auf dem Foto aus. Ich unterdrücke den ersten Impuls, ihr das zu sagen, und auch den, überhaupt nicht mit ihr zu sprechen, sondern besinne mich auf meine Erziehung und sage: »Andrea, Andrea Schnidt – die Frau von Christoph. Hallo.« Nur, um nochmal in aller Deutlichkeit klarzustellen, wer hier welche Rechte hat. Wer weiß, vielleicht hat diese Frau doch noch Reste von Moral und Anstand. »Ich freue mich, dass wir uns endlich kennen lernen«, ergänzt sie noch. Aber bei all meiner Erziehung, diese Nettigkeit zu erwidern, das schaffe ich einfach nicht. Christoph, dem ich einen Blick zuwerfe, bei dem Eskimos frieren würden, überreicht mir den Hausschlüssel. »Ich habe dir ja schon von Michelle erzählt. Wir müssen eh auf einen Termin und da dachte ich, dass es schlau wäre, gleich alles in einem Aufwasch zu erledigen.« Sehr schlau! Geradezu nobelpreisverdächtig. Ich schnappe den Schlüssel und meinen Sohn und schließe auf.
Nachdem ich mir meinen eigenen Schlüssel vom Brett genommen habe, gebe ich ihm seinen zurück und sage, unter Zuhilfenahme aller mir zur Verfügung stehenden Contenance: »Vielen Dank, Christoph. Und wo ich gerade die Gelegenheit habe – ich muss heute Abend nochmal weg, mit Sabine. Kannst du gegen sieben zu Hause sein? Wegen der Kinder?« Er stöhnt. Ein Geräusch, das ich ansonsten, in anderen Lebensbereichen, lange nicht mehr gehört habe. Er dreht sich zu Belle Michelle um, die auf unserer kleinen Vortreppe steht und sagt: »Könnten wir das auch hier erledigen? Diese Rendschmer-Sache?« Sie nickt: »Kein Problem. Wenn deine Tochter genauso süß ist wie der Kleine hier, sogar sehr gerne.« (Während
sie das sagt, krault sie das Haar meines Sohnes, der offensichtlich davon auch noch begeistert ist!) Was soll das bedeuten? Habe ich das jetzt richtig verstanden? Wollen die sich hier, während ich mit Sabine auf einer Vernissage rumstehe, einen duften Abend machen? »Gut, Andrea, da Michelle so nett ist, geht das von mir aus klar. Wir sind um sieben hier.« Fehlt nur noch, dass er sagt, dass ich noch ein paar Schnittchen richten und das Bett frisch beziehen soll.
Ich will mich auf den Boden werfen und mit den Beinen strampeln. Ärgerlich, dass das als Erwachsene nicht geht. Kann ich ihr einfach so ein paar knallen? Oder sollte ich mir nicht zuerst meinen Mann vornehmen? In meinem Kopf laufen sehr unschöne Bilder ab. Wäre das ein Film, dann auf keinen Fall einer für Zuschauer unter 18 . Christoph sagt noch abschließend: »Dann ist ja alles klar. Und übrigens – wenn du heute Abend weg willst, solltest du dich vielleicht noch umziehen.« Kröte Belle Michelle zieht an ihrer Kostümjacke und kichert ganz leise. Ich bin so fassungslos, dass ich nicht mal mehr zu einer Reaktion fähig bin. Für dieses Verhalten ist dreist ein geradezu läppischer Ausdruck. Das ist eine Art verbaler Steinigung.
Als ich mich kommentarlos abwende und ins Haus gehe, kommt er hinterher. Sie allerdings auch. »Ihr entschuldigt mich«, sage ich und konzentriere mich darauf, regelmäßig ein- und wieder auszuatmen, »ich muss eben mal hoch ins Bad.« Ich nehme Mark an der Hand, der sich eher widerwillig von mir mit nach oben zerren lässt.
Etwa fünf Minuten verharre ich im ersten Stock. Höre weit entfernt mein Handy piepsen, sitze in Marks Kinderzimmer
und glotze stoisch auf das Playmobilpiratenschiff, so als hätte ich es nie zuvor gesehen. Ich bin wie betäubt. Mark merkt, dass irgendwas nicht stimmt, und fragt: »Bist du krank?« Als ich nicht antworte, fängt er an, mir was von Michelle zu erzählen. Irgendwas von »toll schön und toll lieb«. Was hat diese Frau an sich, dass alle Männer (selbst solche im Kindergartenalter) schon beim ersten Kontakt zu hypnotisierten, verzauberten Kaninchen mutieren und spätestens dann, wenn sie die Pubertät hinter sich gelassen haben, anfangen zu sabbern?
Als die Tür unten ins Schloss knallt – keiner der beiden hat »tschüs« gesagt – und wenige Sekunden später der Motor aufheult, fange ich an zu weinen. »Ich bin deine Mama«, schluchze ich und mein Sohn schaut mich mit großen Augen an. Als er seine kleinen Arme um mich legt und nur »ja klar« sagt, ist es restlos um mich geschehen. Ich weine eine gute Viertelstunde, bis es an der Tür klingelt. Claudia ist da. Ich ziehe sie ins Haus und schmatze sie ab, so als wäre sie gerade von einem
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