Treuepunkte
richtig, Andrea«, antwortet der Girstmann und lacht noch immer. »Ich habe dich hier ja noch nie gesehen. Ich bin jedes Wochenende da. Ist doll hier. Warst du schon mal oben?«, fragt er und leckt sich die Lippen. Ich verneine. Ich bin mir nicht sicher, was oben sein könnte, ahne aber, dass es irgendwas nicht Jugendfreies ist.
»Wollen wir mal hochgehen, wir zwei Hübschen?« fragt mich doch tatsächlich der Girstmann. Ist der übergeschnappt? »Moment«, unterbricht ihn da der Theken-Ralf, der Mann von Ronja, »Klaus, ich habe zuerst gefragt. Einer nach dem anderen.« Girstmann heißt also Klaus. »Gut«, fügt sich der dann auch gleich dem Hausherrn Ralf, »so eine junge schöne Frau hat ja Ausdauer genug, erst dich und dann mich glücklich zu machen.« Jetzt ist meine Ekelschwelle erreicht. »Danke sehr, die Herren, ich bin eine verheiratete Frau«, weise ich die zwei in ihre Schranken und rutsche vom Partyhocker. Ich muss hier weg. Schnell weg.
Wo ist Sabine? In meiner Frikadellenbegeisterung habe ich sie doch glatt aus den Augen verloren. »Sabine«, rufe ich in den Raum. Keine Sabine weit und breit. Auch Kai-Uwe und Helmuth sind wie vom Erdboden verschwunden. Ohne Sabine habe ich kein Auto. Und Sabine hat den Spindschlüssel. Wie soll ich denn jetzt dem Girstmann und dem aufdringlichen Ralf entkommen?
Ein Taxi rufen und in Unterwäsche und ohne einen einzigen Euro nach Hause fahren? Unvorstellbar. Allein der Gedanke: Ich betrete in Push-up und Mittwochsschlüpfer unser Haus und da sitzen Belle Michelle und mein Mann und ich muss ihn um Taxigeld bitten und erklären, dass ich gerade aus einem Swinger-Club komme, dass das aber nichts zu bedeuten habe und vollkommen harmlos sei und ich eigentlich nur Hunger hatte und wegen der Frikadellen geblieben bin. Und all das, wo ich doch morgen früh meinen ersten Arbeitstag habe! Was wird Belle Michelle dann in der Kanzlei über mich erzählen?
Nein, das ist unmöglich. Ich brauche Sabine, den Schlüssel und das Auto. Ich mache mich auf die Suche und frage die Menschen um mich herum. »Entschuldigung, haben Sie eine Frau in pinkfarbener Unterwäsche gesehen?« Wie entwürdigend. Demnächst lasse ich mich lieber Mutti nennen und bleibe solchen Clubs fern. Man lernt eben nie aus. Eine ältere Frau, in einer lila Korsage (wo gibt’s eigentlich so was?), glaubt Sabine gesehen zu haben. »Die ist hoch, in die Mat-Etage«, teilt sie mir mit.
Als ich mich bei ihr bedanke und noch darüber nachdenke, was Mat-Etage heißen könnte, steht auf einmal der Girstmann neben der Korsagenfrau und tätschelt ihre Schenkel. »Na, Andrea, gefällt dir meine Frau?«, fragt er mit sehr schlüpfrigem Unterton. »Das ist die Luitgard«, stellt er sie mir vor. Luitgard Girstmann. »Sehr erfreut«, sage ich und bin entsetzt. Die Frau meines Erdkundelehrers in lila Korsage mit Strapsen und einer Frisur wie Helga Beimer aus der Lindenstraße. Das ist zu viel für mich. »Gut, also ich gehe dann mal meine Freundin suchen, weil, also, ich wollte gar nicht hierher. Das war ein
Zufall, ich wusste gar nicht, was das hier ist«, versuche ich, noch schnell klarzustellen, dass ich keineswegs aus freien Stücken hier bin, sondern dass es sich nur um ein sehr großes Missverständnis handelt. »Beim ersten Mal sind alle so gschamig«, lacht der Girstmann und schiebt eine Hand in die Korsage seiner Luitgard und knetet ihre Brust. Ich hätte nicht gedacht, dass bei einer dermaßen engen Korsage noch eine Hand reinpassen würde. Muss einen hohen Stretchanteil haben, diese Korsage. Wie schamlos der Girstmann ist. Und seine Frau erst. Statt ihm auf die Pranken zu hauen, kichert sie und sagt: »Früher haben wir abends ferngesehen, jetzt machen wir unsere eigene Show.« Um zu demonstrieren, was für eine, greift sie ihrem Gatten zwischen die Beine. Ich glaube, gleich wird mir schlecht. Ich verabschiede mich, Herr Girstmann und Gattin Luitgard lächeln freundlich, gerade so, als wäre das eine völlig normale Situation und wir hätten uns bei einem Sonntagsspaziergang getroffen. Herr Girstmann pult die Hand aus der Korsage und will sie mir zum Abschied geben. Das geht zu weit! Eben noch in den Abgründen einer lila Korsage wühlen und jetzt mich anfassen wollen.
Ich gehe und sehe aus den Augenwinkeln noch, wie sich Frau Girstmann aus der Korsage pellt. Ja, ich bin eine Spießerin und ich will auch eine bleiben. Das hier ist definitiv nicht meine Welt! Dass es so was gibt, war mir schon irgendwie klar. Aber in
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