Treuepunkte
wie in einer Sauna fühlen würde.
Sabine setzt sich neben mich an die Theke. In Unterwäsche auf Kunstlederpartyhockern – das ist gewöhnungsbedürftig. »Ich will hier weg, Andrea. Nenn mich Mutti oder was auch immer, aber das ist nichts für mich.« »Iss erst mal was. Jetzt sind wir eh halbnackt und alle haben uns gesehen. Ich will wenigstens in Ruhe essen und dann können wir, von mir aus, gehen«, gebe ich mich total entspannt und lässig. In erster Linie, weil das Essen sehr lecker ist. Ich lasse sogar den Bauch einfach hängen – so wie er nun mal hängt. In meinem Hinterkopf schwirrt immer noch Sabines Mutti-Vorwurf. Den will ich nach dem heutigen Abend nie mehr hören. Allerdings habe auch ich mich schon wohler gefühlt. Aber so, mit dem Rücken zum Raum, geht es.
Nachdem ich die dritte Frikadelle in mich reingestopft habe, tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. »Andrea«, sagt eine Stimme. »Schnidt, an der Unterbuxe erkenne ich dich überall. Dass du die immer noch hast«, redet diese, mir vage bekannte Stimme, weiter. Was nun? Einfach nicht antworten? Ich merke, wie ich anfange zu schwitzen und das trotz meiner luftigen Bekleidung. Wer kann das nur sein? Ich will mich nicht umdrehen, denn ich ahne Schreckliches. Es kann nur irgendjemand aus meiner Schule sein. Ansonsten weiß ja niemand von meiner unsäglichen Wochentagsunterhosengeschichte. »Was für ein Zufall, nach so langer Zeit. Wo wir beim Klassentreffen ja kaum miteinander gesprochen haben«, geht es hinter mir weiter, »da freue ich mich aber.« Ohne mich umzudrehen, sage ich mit ganz tiefer Stimme: »Ich glaube, da liegt eine Verwechslung vor. Entschuldigen Sie mich bitte.« »Ha, ha«, lacht es da aus vollstem Hals und ich kann mir gut vorstellen, dass die gesamte Mannschaft schon auf uns starrt, »ich kenn doch meine Pappenheimer. Ich sage nur ein Stichwort: ›Südamerika‹.«
Jetzt drehe ich mich doch um. Ich war schließlich in meinem ganzen Leben noch nicht in Südamerika, und deshalb, bin ich mir sicher, muss es sich wohl um eine Verwechslung handeln. Außerdem – was soll’s. Ich kann mich ja schlecht in Luft auflösen oder über die Theke in die Versenkung hüpfen. Mein Gegenüber hat, genau wie ich, eine Larvenmaske auf. Aber auch mit Maske erkenne ich den Mann sofort. Es ist Herr Girstmann, mein ehemaliger Erdkundelehrer. Der war doch damals schon alt. Wie kann das denn möglich sein? Dass der überhaupt noch lebt. Was für ein Lustgreis! Wie widerlich. Ich habe
mir bisher nie Gedanken darüber gemacht, wie Herr Girstmann wohl in Unterwäsche aussieht, aber nun steht er genauso vor mir. Kein besonders angenehmer Anblick. Von der Form her eine Art Mittelgebirge. Welkes Fleisch wohin man auch schaut. Gruselig. »Südamerika, ha, ha, die Andrea«, kriegt der Kerl sich gar nicht mehr ein und sein Bauchfleisch wippt bei dem grandiosen Witz auch noch mit.
Ich erinnere mich dunkel an etwas, das er mit Südamerika meinen könnte. Eine mündliche Erdkundeprüfung in der achten Klasse. Ich musste an die Tafel kommen und sollte die Lage der Malediven bestimmen. Ich hatte nicht den blassesten Dunst, wo die liegen könnten. Mit meinen Eltern bin ich nie dort gewesen (ich bin kein Millionärskind!) und ich habe auch nicht zu den Kindern gehört, die tagelang über irgendwelchen Landkarten gebrütet haben. Also habe ich die Malediven kurzerhand nach Südamerika verlegt. Vor die Küste Südamerikas, an die Ostküste. Herr Girstmann hat sich darüber gar nicht mehr beruhigen können. Was an einem kleinen Fehler so spaßig sein kann, ist mir bis heute unerklärlich.
»Die Malediven sind im Südwesten von Indien, Herr Girstmann«, sage ich also zur Begrüßung und er freut sich sichtlich, weil er natürlich denkt, das sei bei mir wegen seines herausragenden Unterrichts hängen geblieben. Totaler Quatsch, ich weiß es nur, weil Heike und ich mal einen Ayurveda-Urlaub machen wollten. Und das kann man nicht nur in Sri Lanka und Indien, sondern eben auch auf den Malediven machen. War uns aber zu teuer und deshalb sind wir für ein Wochenende nach Bad Salzschlirf in der Rhön gefahren. Ein Wochenende lang ranzige
Butter über den Kopf geschüttet zu bekommen, hat mir dann auch gelangt. Ich finde Butter gehört aufs Brot. Ich mag auch lieber fertige Kuren für die Haare, als mir aus Öl, Eiern und Ähnlichem was anzumischen. Dieses Öl-Ei-Gemisch hatte ich damals erst nach viermaligem Haarewaschen halbwegs wieder raus. »Südwesten,
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