Tribunal
Marie. »Es gibt keine Chance, ohne fremde Hilfe hier rauszukommen.«
»Wir müssen uns konzentrieren«, beschwor Frodeleit. Er stand aufrecht in dem Stollen, stemmte sich gegen die wachsende Mutlosigkeit und aufkeimende Verzweiflung. »Er hat was mit uns vor, da bin ich mir sicher.«
»Sie denken richtig.«
Bromscheidts Stimme schallte synthetisch von den Wänden. Sie drehten sich irritiert um, Verena stolperte zu der Wand, von der die Stimme gekommen zu sein schien, doch es blieb still. Löffke und Frodeleit leuchteten die Wände ab. Irgendwo zwischen den alten Leitungen und Rohren waren offensichtlich Lautsprecher und Mikrofone versteckt, über die Bromscheidt ihre Unterhaltung verfolgt hatte. Doch sie konnten sie nicht erkennen.
»Herr Bromscheidt?« Freundlich und geduldig wiederholte Stephan seine Anrede und wandte sich erst der einen und dann der anderen Wand zu. Man durfte Bromscheidt nicht reizen, doch zugleich konnte jedes taktische Vorgehen falsch sein, solange sie nicht wussten, was er wirklich wollte.
»Sagen Sie uns, was Sie wollen!«, rief Frodeleit gegen den Beton. »Sie hören uns doch. Lassen Sie uns bitte hier raus! So etwas ist kein Scherz.«
»Natürlich ist es kein Scherz«, kam es von der Wand zurück. »Auch das sehen Sie richtig.« Bromscheidts Stimme klang gelöst, fast belustigt.
Frodeleit trat näher an die Stollenwand heran und versuchte, die Mikrofone zu ertasten.
»Lassen Sie das bitte bleiben!«, forderte Bromscheidt freundlich von der anderen Stollenwand aus auf. »Ihre Suche ist müßig.«
»Offensichtlich können Sie uns auch sehen«, staunte Frodeleit unsicher.
»Ja«, antwortete Bromscheidt ruhig. »Ich sehe Sie. Zwar nicht deutlich, aber in etwa so, wie Sie sich im Lichte der Taschenlampen sehen können.«
»Frau Löffke und meiner Frau geht es schlecht«, rief Frodeleit gegen die Wand. »Tut Ihnen das gut?«
Stephan fasste Frodeleit an die Schulter, doch der riss sich los.
»Tut Ihnen das gut?«, wiederholte er.
»Es ist ein Experiment«, erwiderte Bromscheidt knapp.
»Sie haben nicht unser Einverständnis«, gab Frodeleit zurück. »Sie können nicht Menschen einfach einsperren und leiden lassen. Lassen Sie uns sofort raus! Denken Sie an mein Angebot! Sie kämen mit zwei blauen Augen davon, Herr Bromscheidt! Wenn Sie klug sind, nehmen Sie dieses Angebot an. Es ist sogar mehr als das: Es ist ein Geschenk.«
»Wie großzügig Sie in Ihrer Lage Angebote machen«, kam es gelassen von der Wand zurück. »Aber so einfach ist das nicht, Herr Frodeleit. Ich will Gerechtigkeit.«
»Gerechtigkeit?« Frodeleit lachte höhnisch auf. »Was soll das, Herr Bromscheidt? Wer soll Ihnen hier Gerechtigkeit geben? Wo ist Ihnen Unrecht widerfahren? – Herr Bromscheidt, reden Sie!«
Frodeleit schlug mit der flachen rechten Hand gegen eines der Rohre. Sein Ehering ließ das alte Rohr mit einem scharfen blechernen Klacken aufklingen. »Jetzt melden Sie sich endlich!«
Doch Bromscheidt verstummte.
»Du darfst ihn nicht provozieren«, flüsterte Dörthe.
»Er sagt, es ist ein Experiment«, erinnerte sich Löffke.
Er wirkte erleichtert, als habe diese Aussage ihrer Situation die Gefahr genommen, in der sie sich gerade noch wähnten. Aber was änderte sich dadurch? Ein Experiment zu welchem Zweck? Ging es wirklich um das von Bromscheidt umrissene Projekt Justiz und Gewissen‹? Durfte es ein Experiment geben, bei dessen Durchführung Menschen in einem verlassenen Stollen eingesperrt wurden? Mussten sie angesichts des Umstandes, dass Bromscheidt alle Schritte minutiös geplant und mit großer Umsicht dafür gesorgt hatte, dass niemand etwas von ihrem Verschwinden bemerkte, nicht befürchten, dass hinter all dem eiskalten Kalkül ein teuflischer Plan stand? Nur: Welchen Inhalt hatte der Plan?
»Sie begehen Freiheitsberaubung«, rief Frodeleit hilflos in den Stollen. Von den Wänden kam ein glucksendes, heiseres Lachen zurück.
»Was ist daran komisch?«, fragte Frodeleit.
Bromscheidt antwortete nicht.
Frodeleit wollte wieder gegen die Stahltür treten, doch Stephan hielt ihn zurück.
»Er ist wahnsinnig«, sagte Verena leise. »Er hat ein widerliches hämisches Lachen.«
»Erzählen Sie uns mehr von Ihrem Experiment!«, rief Löffke. »Ist es das Projekt, das wir gemeinsam durchführen wollen, Herr Bromscheidt?«
Er hatte laut und deutlich gesprochen, doch das Beben in seiner Stimme war nicht zu überhören. Der bullige Löffke hatte Angst. Der Schweiß auf seiner Stirn
Weitere Kostenlose Bücher