Tribunal
dieser Stelle etwa acht Meter Höhe.
Löffke war von dem hohen Raum eigentümlich fasziniert. Seine Blicke folgten dem Lauf der Stahlbögen, die rostig braune Streifen bildeten. Rechts verengte sich der Stollen zu einem kleineren Querschnitt. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er die rot-violetten dünnen Lichtpfeile, die sich wie feine Fäden zur Schmalseite der Stollenwand über die Dunkelheit spannen. Löffke trat einige Schritte in das gespenstisch ausgeleuchtete hohe Gewölbe. Seine Schritte wurden fester. Er spürte, dass Bromscheidt sie hier nicht angreifen würde, und winkte die anderen zu sich in die Mitte der Halle. Sie folgten ihm, unsicher und erstaunt. Sie standen eng beieinander wie zusammengetriebenes Vieh.
»Willkommen in der Kathedrale!« Bromscheidts Stimme hallte in einem mächtig dunklen Klang. Von ihm selbst war nichts zu sehen. Sie nahmen flüchtig einige an der Wand geführte Kabel wahr. Bromscheidt hatte auch hier technische Installationen vorgenommen und offensichtlich großen Aufwand in die Umsetzung seines Planes investiert. Gegenüber dem Stahltor, das den Querstollen vom Hauptstollen trennte, entdeckten sie eine verschlossene und noch etwas kleinere Tür, ebenfalls aus massivem Stahl gefertigt, die etwas in den Wandbeton zurückgesetzt war und deshalb im Schatten des nach oben flutenden Lichts nicht sofort auffiel. Jetzt erkannten sie, dass die rot-violetten Fäden Lichtschranken vor einem geschlossenen Zaun waren. Bromscheidt hatte die von ihm als Kathedrale bezeichnete Halle offensichtlich dazu eingerichtet, sie hier festzuhalten. Der ungewohnte und durch seine Beleuchtung geheimnisvoll wirkende Raum wirkte trotz seines viel größeren Querschnitts bedrohlicher als der kleine Stollen, in dem sie Bromscheidt zuerst festgehalten hatte. Bromscheidt führte seine Gefangenen sich selbst vor. Schutzlos standen sie in dem hohlen Gewölbe. Frodeleit, der Löffke in dem kleinen Stollen mit aggressiven Worten angegangen war, blieb still und spürte wie die anderen eine bedrohliche Beklommenheit, in der sich alle unausgesprochen der Tatsache bewusst waren, dass Bromscheidt sie keinesfalls schnell aus ihrer Notlage zu befreien beabsichtigte. Alle Schritte waren minutiös geplant und mit großem Aufwand realisiert worden.
»Seien Sie ehrlich mit uns, Herr Bromscheidt«, bat Stephan nüchtern.
»Wie gefällt Ihnen die Kathedrale?«, erkundigte sich der Angesprochene sanft. »Die Frage geht an Sie, Frau Schwarz. Ich höre kaum etwas von Ihnen.«
Er schnalzte. Das Geräusch kam abstoßend genüsslich über die Lautsprecher. Sie merkten, dass Bromscheidt technische Effekte eingebaut hatte, die seine Worte wie in einem großen Kirchenschiff erklingen ließen. Er hatte tatsächlich eine Kathedrale erbaut.
»Es geht mir nicht gut«, sagte Marie. »Wie uns allen.«
»Sie haben also Angst?«, fragte Bromscheidt gedehnt und schmeckte seine Worte nach. »Sie, Frau Schwarz, brauchen keine Angst zu haben«, fuhr er schließlich weich und fast väterlich fürsorgend fort. »Und Sie auch nicht, Herr Knobel. Sie sind ja nur zufällig zwischen uns geraten. Das tut mir ausgesprochen leid.«
»Was heißt zwischen uns?«, fragte Stephan.
»Nun ja …« Bromscheidts Lachen echote wabernd von den Stollenwänden zurück.
»Sie sind in meinem Experiment nicht die Hauptdarsteller, sondern nur die Statisten. Aber ich verspreche Ihnen: Sie beide haben nichts zu befürchten. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Mein Wort«, wiederholte Frodeleit flüsternd. »Geben Sie auch uns Ihr Wort, Herr Bromscheidt?«, fragte er laut. »Mir und meiner Frau?«
»Ich gebe auch Ihnen und Ihrer Frau mein Wort«, bestätigte Bromscheidt wie ein gelehriger Schüler und setzte bestimmt hinzu: »Denn Sie, Herr Frodeleit, werden der Richter sein. Ich brauche einen Richter, einen wirklichen Richter.«
Frodeleit blickte sich erregt um. Er hoffte, Bromscheidt irgendwo erblicken zu können, doch er sah ihn nicht.
»Er meint nicht uns«, raunte Frodeleit seiner Frau zu. Er drehte sich um und suchte angestrengt mit seinen Blicken die kleine Kamera, die Bromscheidt hier irgendwo installiert haben musste. »Sie haben nichts gegen uns?«, fragte Frodeleit laut in die Kathedrale. Seine Stimme hatte einen Tonfall, der feststellend und schlussfolgernd, zugleich aber auch ängstlich war. »Verstehe ich Sie richtig?«, hakte er nach und nahm seine Frau an die Hand.
»Sie sind der Richter«, stellte Bromscheidt fest.
Hubert Löffke und seine Frau
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