Tribunal
Mussten sie nicht Hubert Löffke gegenüber Bromscheidt opfern, um mitzuspielen? Würde Bromscheidt nicht protestieren, wenn sich eine ihm sympathische Person anschickte, die Lichtschranke zu testen? Hatte Frodeleit nicht psychologisch alles richtig gemacht? Aber die Frage blieb: Warum ging er nicht selbst? Was prädestinierte ihn dazu, andere auszuwählen?
Dörthe hatte sich aus der Gruppe gelöst. »Ich gehe«, sagte sie. »Ich werde meine Jacke oder den Pullover hindurchwerfen. Da kann nichts passieren.«
Sie zog ihre Daunenjacke aus, warf sie über ihren Arm und ging vorsichtig in Richtung Hauptstollen. Die anderen folgten ihr. Dann standen sie am Rand der ausgeleuchteten Kathedrale. Der hinter ihnen liegende Stollen versank in ein tiefschwarzes Nichts. Rund zehn Meter hinter der in die Kathedrale führenden Mündung kreuzten mehrere übereinander angeordnete Lichtpfeile in Abständen von 30 bis 40 Zentimetern den Stollen. Sie strahlten zu eng beieinander, als dass man gefahrlos hätte hindurchsteigen können. Ihr ins Violette changierendes Rot evozierte eine geheimnisvolle sakrale Schönheit. Als Frodeleit mit seiner Taschenlampe die Wände ableuchtete, deckte er die auf Holzlatten befestigten Sender und Empfänger der Lichtstrahlen auf. Hinter den Lichtschranken befanden sich dunkel gestrichene Scherengitter, die wie Schwenktüren an der Stollenwand angebracht waren. Ohne sich in der Mitte zu berühren, führten von den Gittern kräftige kupferne Kabelenden in die Mitte, die nur einen wenige Zentimeter breiten Zwischenraum ließen. Das Kupfer funkelte gleißend im Licht. Stephan kam flüchtig auf die Idee, die Latten mit Gewalt abzureißen, aber damit wäre zwangsläufig der Lichtstrahl durchbrochen und der Kontakt ausgelöst worden. Die Versorgungsleitungen zu den Sendern und Empfängern wurden von hinten aus dem Stollen herausgeführt. Man würde die Kabel nicht durchtrennen können, ohne Gefahr zu laufen, denselben Effekt auszulösen wie eine Durchbrechung des Lichtstrahls. Wer konnte schon beurteilen, welche technischen Fallen Bromscheidt gestellt hatte?
Dörthe war vorgetreten. Sie wagte sich mit kleinen Schritten in den Stollen vor.
»Wirf von hier!«, rief Löffke. »Vielleicht gibt es vor der sichtbaren Schranke noch eine Infrarotlichtschranke.«
Sie sah sich ängstlich um. Frodeleit leuchtete ihr ins Gesicht. Es war weiß und glänzte feucht.
»Von hier?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Frodeleit suchte mit der Lampe die Stollenwände vor der Lichtschranke ab. Das Licht tanzte koboldhaft über die rostbraunen Stahlbögen, die das Tunnelprofil stabil hielten. Es waren keine technischen Geräte zu sehen.
»Geh trotzdem nicht weiter!«, forderte Hubert. »Wir können nicht sehen, ob hinter den Aussteifungen etwas ist. Es gibt so kleine Geräte, die sich mühelos dahinter verstecken lassen. Es ist zu gefährlich.«
Dörthe schwenkte ihre Jacke.
»Du musst sie weit werfen, sonst erreicht sie den Lichtstrahl nicht«, forderte Hubert.
»Knoten Sie doch die Ärmel zusammen!«, schlug Stephan vor. »Dann wird die Jacke kompakter und schwerer.«
»Warum soll sie überhaupt die Jacke werfen?«, fragte Marie. »Sie wird sie noch brauchen.«
»Wir haben nichts als unsere Kleidung«, antwortete Frodeleit. »Oder haben Sie eine bessere Idee?«
»Ihre Jacke zum Beispiel«, erwiderte Marie.
Frodeleit schüttelte den Kopf. »Sie denken falsch, Frau Schwarz. Sie haben noch nicht verstanden, dass wir in einer Gemeinschaft sind, in der jeder seinen Anteil leisten muss. Einer von uns muss jetzt ein Kleidungsstück opfern. Abgesehen davon, dass wir nicht wissen, ob es dann überhaupt verloren geht, können wir in den nächsten Minuten gefordert sein, ganz andere Opfer zu bringen. Es geht hier nicht um die Frage, wer was opfert. Wir sind alle gefordert.«
Marie antwortete nicht. Sie war beschämt. So naheliegend es war, dass Frodeleit Dörthe und Hubert Löffke in gemeinsamer Verantwortung sah und deshalb aus seiner Sicht diese beiden als Erste berufen waren, Opfer zu bringen, so abwegig war es auch, dies von Frodeleit zu fordern. Warum opferte sie nicht ihr eigenes Kleidungsstück? Der Richter hatte sich zum Führer der Gruppe aufgeschwungen. Sie mochte diesen Mann nicht, der karriereverliebt unbeirrt seinen Weg ging und auch jetzt, innerhalb der durch die Zwangslage begründeten Zufallsgemeinschaft für sich reklamierte, der Entscheider zu sein. Mit welchem Recht? Aber in der hier zu entscheidenden Frage
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