Tribunal
nichts zu essen. Sie sitzen seit Stunden in dieser stickigen Luft. Er wird es nicht mehr lange schaffen. Ich weiß doch, wie schnell er schwächelt. Körperliche Anstrengungen hält er nicht aus.«
»Ich verstehe Ihre Freundschaft nicht«, sagte Marie.
Frodeleit wandte sich verwundert um. »Sie kennen uns doch gar nicht, Frau Schwarz.«
»Gerade deshalb. Tun Ihnen die beiden nicht leid?«
»Sicher. Aber nützt es was?« Frodeleit sah ungerührt in die Halle. »Wenn wir unsere Wochenendfahrten machen, ist Hubert immer der Erste, der in die nächste Kneipe will«, erklärte Verena. »Viel Kultur ist mit ihm nicht drin. Und mit Dörthe auch nicht. Vielleicht sind die beiden nur irgendwann stehen geblieben. Es ist ja auch keine Frage der Schuld. So etwas passiert einfach.«
»Das Kulturelle ist bei uns allerdings auch erst später dazugekommen«, korrigierte Frodeleit, während er unverwandt die Halle im Blick behielt.
»Durch deinen früheren Senatsvorsitzenden, Achim, das ist richtig. Aber man findet ja nicht an etwas Geschmack, wenn man es nicht in sich hat. Du weißt doch selbst, wie häufig wir die Dauerkarten für die Oper benutzen.«
Marie begann laut zu lachen.
Frodeleit wandte sich abrupt um und schüttelte sie.
»Frau Schwarz, beherrschen Sie sich! Ich weiß wirklich nicht, was hier zum Lachen ist.«
Marie rang nach Luft, das Lachen ging in ein Heulen über.
Stephan nahm sie in den Arm.
»Dauerkarten für die Oper«, wiederholte sie leise. Sie zitterte.
Verena hatte ihre Worte gehört. »Es ist so«, bekräftigte sie.
Das schrille Pfeifen traf sie wie ein Schlag. Das Geräusch wurde von den Wänden zurückgeworfen, drang in den Stollen und bemächtigte sich des Gewölbes. Es war so unerträglich laut, dass sie unwillkürlich ihre Hände schützend an die Ohren pressten. Löffkes Treten und Rufen war nicht mehr zu hören. Bromscheidt ließ es minutenlang pfeifen. Anfangs schützten die Hände vor den Ohren und nahmen dem hohen Ton seine Spitze. Doch das Pfeifen hörte nicht auf. Es stach mit der fürchterlichen Erkenntnis ins Bewusstsein, dass Bromscheidt seine Geräte vielleicht nicht mehr abschalten würde. Der Pfeifton ließ niemanden entkommen. Frodeleit hastete mit angepressten Händen im Stollen auf und ab, verschwand kurz im Dunkeln hinter der Toilette und tauchte mit verzerrtem Gesicht wieder auf.
»Er foltert uns«, schrie er. »Es ist ihm eine Freude.«
Sein Gesicht war zur Fratze verzerrt. Er rannte in die Kathedrale und stolperte vor die Kameralinse. Er suchte das kleine Mikrofon und schrie so laut er konnte Bromscheidts Namen. Doch das Dauerpfeifen blieb die einzige Antwort. Schlagartig begriff er, dass es in der Halle und in ihrem Stollen eine Vielzahl von Lautsprechern geben musste, die sie traktierten. Er blickte sich hektisch suchend um, als würde ihm diese Erkenntnis helfen. Das hohe Gewölbe drehte sich über ihm. Der dunkelgraue Beton und die rostbraunen Stahlträgerböden tanzten vor seinen Augen. Es gab kein Entrinnen vor diesem schrecklichen Ton. Sein Gesicht schnellte wieder vor das kleine Mikrofon.
»Herr Bromscheidt, bitte!«
Er klagte nicht, er beklagte nicht, er bettelte laut schreiend unterwürfig um Mitleid. »Entschuldigen Sie, Herr Bromscheidt!«
Abrupt verstummte das Pfeifen, doch in den Ohren klang es unvermindert nach. Zitternd ließ er seine Hände sinken.
»Das waren sechs Minuten und 23 Sekunden«, sagte Bromscheidt milde. »Sie wollten sich entschuldigen?«
Frodeleit wusste nicht mehr, wofür er sich entschuldigen wollte, aber es hatte sich in ihm eingebrannt, dass die Entschuldigung den Pfeifton erstickt hatte.
»Herr Richter Frodeleit?«, fragte Bromscheidt freundlich nach.
»Ja, Herr Bromscheidt.«
Er klebte förmlich an dem Mikrofon. Er gähnte mehrfach, als ließe sich dadurch der Ton verjagen. Aber er blieb und schmerzte weiter in seinem Gehirn.
»Sie wollten sich dafür entschuldigen, dass Herr Löffke zu nächtlicher Stunde einen solchen Terror entfaltet, nicht wahr, Herr Frodeleit? Das wäre auch nur richtig.«
Frodeleit ging einen Schritt zurück. Er blinzelte in die Kameralinse. Sah Bromscheidt ihn jetzt? Der Deckenfluter warf genug Licht auf Frodeleit. Er versuchte, aus seinem Gesicht die Spannung weichen zu lassen. Er fühlte sich verkrampft und wollte Normalität signalisieren und strich sich fahrig durch das schweißnasse Gesicht.
»Sie dürfen nicht zulassen, dass Löffke so etwas macht«, fuhr Bromscheidt fort.
»Nein«,
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