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Tribunal

Tribunal

Titel: Tribunal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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Schaltpult sitzen, um das gellende Pfeifen in die Halle zu jagen. Zwar würde er sie jetzt nicht durch die Kamera beobachten können, aber er würde vorher getestet haben, wie es ist, in einem tiefschwarzen Raum zu sein, in dem man nicht das Mindeste mehr sehen konnte. Er wird sich daran berauscht haben, wie die Schwärze in den Körper kriecht, die absolute Dunkelheit zu einem Gefühl wird, sich wie Krakenarme um das Leben schlingt und es erdrückt. Jeden Augenblick würde er den Schalter umlegen. Sie schwankte hin und her. Die Stille musste ein Ende finden. Sie schrie in die Halle, so schrill sie konnte, schrie gegen den Pfeifton an, der gleich mit Wucht aus dem Lautsprecher auf sie einschlagen würde.
    »Verena!«
    Frodeleit bellte ihren Namen, aber sie schrie weiter, bis das Schreien von ihrem hysterischen Heulen erdrückt wurde.
    »Wir dürfen nicht wahnsinnig werden, Verenchen«, sagte Frodeleit. Jetzt schien er ihr nahe und in der Schwärze doch unerreichbar fern. Verenchen sagte er oft zu ihr, wenn sie sich stritten und er sie beschwichtigen wollte, ohne den Streit zu lösen und ohne sich zu versöhnen. Wenn er sie so anredete, wusste sie, dass er nicht länger mit ihr diskutieren würde. Mit dem Namen Verenchen machte er sie kindlich klein und nahm dem Streit die Ernsthaftigkeit.
    Frodeleit subtrahierte sich selbst aus dem Konflikt. Verena sollte sich beherrschen, ihr hysterisches Heulen würde keinem helfen. Sie hatte sich zu konzentrieren wie die anderen auch, hatte ihm gegenüber eine Verantwortung wie auch er den anderen gegenüber. Wenn sie überfordert war, ließ Verena sich gehen; wurde der Druck zu groß, kapitulierte sie. Nach dem Abitur hatte sie zunächst ein betriebswirtschaftliches Studium begonnen, das sie nach den ersten misslungenen Prüfungen abbrach. Frodeleit hatte nach außen für diesen Schritt Verständnis gezeigt. Im Inneren wertete er den Abbruch jedoch als Schwäche. Frodeleit selbst hatte sich stets durchgebissen, und Misserfolge als Ansporn verstanden, an sich zu arbeiten, bis er nicht nur die gestellten Aufgaben lösen, sondern sich mit Auszeichnungen gegenüber den anderen abheben konnte. Das Menschenmögliche ist das mir Mögliche, pflegte er häufiger zu sagen. In seinen Sitzungen galt der Satz in abgewandelter Form: Niemand musste zum Straftäter werden und deshalb hatte der Angeklagte kein Recht, sein Tun damit zu entschuldigen, dass ihn ungünstige Umstände auf die schiefe Bahn geraten ließen. Verteidiger, die länger mit Frodeleit zu tun hatten, wussten, dass ihr Mandant gut beraten war, rührselige Erklärungsversuche, die der Gesellschaft die Schuld gaben, zu unterlassen.
    Verena beruhigte sich etwas.
    »Du schaffst das«, sagte Frodeleit weich. »Verenchen, bitte!«
    »Die Lichtschranken sind aus.« Maries plötzliche Feststellung klang unwirklich ruhig. Tatsächlich: Die bedrohliche Nacht hatte auch die violett-roten Pfeile geschluckt.
    »Stromausfall?«, flüsterte Frodeleit. »Ist wirklich der Strom ausgefallen?«
    »Achim?«, fragte Löffke.
    »Ich bin noch im Türrahmen, Hubert. Die andere Taschenlampe muss hier im Stollen sein. Wir haben sie gestern Abend neben der Tür abgestellt. Ich taste mich ran.«
    Jetzt begann Dörthe zu weinen.
    »Bewegt euch nicht von der Stelle!«, forderte Löffke. »Achim, hast du die Lampe?«
    Frodeleit hatte sich hingekniet. Er kroch über den staubigen Beton, tastete sich behutsam nach vorn und fühlte mit der linken Hand die Betonwand, die den Stollen zur Halle hin abschloss und in die die schwere Tür eingebaut war. Er behielt mit der linken Hand Kontakt zur Wand, während er langsam weiterkroch und sich mit der rechten Hand abstützte. Schließlich stieß seine linke Hand vorn an die Stollenwand. Hier in der Ecke auf dem Boden musste irgendwo die Lampe liegen. Er setzte sich hin und griff vorsichtig den Boden ab. Endlich berührten seine Hände die Plastikschlaufe, die hinten am Lampenschaft angebracht war. Er strich mit den Fingern in nervöser Ruhe über den Lampenkörper, dann über den Griff und weiter bis zu dem Schiebeschalter. Zitternd schob er den Schalter mit dem Zeigefinger nach vorn und umfasste mit der Hand zugleich fest den Griff. Tatsächlich: Das Licht ging an.
    Frodeleit sprang auf und hielt die Taschenlampe mit beiden Händen fest. Der Lichtstrahl zitterte über die Wände, irrte an der Stollendecke entlang, traf dann auf den Türrahmen und leuchtete schließlich in die Halle. Frodeleit schwenkte die Lampe, der

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