Tribunal
behauptete, lag auf der Hand. Im Inneren musste Löffke anders denken. Wie viele Büllesbachs hatte Löffke als Mandanten und wie oft waren sich Frodeleit und Löffke in diesen Bagatellsachen beruflich schon begegnet? Es mochten 20, vielleicht 30 Fälle gewesen sein, in denen Frodeleit der zuständige Amtsrichter und Löffke der Verteidiger war. Seine Mandanten waren Diebe, die behaupteten, nicht gewusst zu haben, dass es sich um fremde Sachen handelte, die sie entwendet hatten; Betrüger, die nicht wussten, dass sie billige Imitate als teuren Schmuck anboten; betrunkene Autofahrer, die überrascht waren, dass der Genuss von nur zwei Gläsern Bier zu Blutalkoholkonzentrationen von über zwei Promille führte. Natürlich gab es die Schwarzfahrer, die das Lösen eines Fahrscheins vergessen hatten. Frodeleit kannte sie alle, die ständig wiederkehrenden Ausreden, die er sich widerwillig anhören musste und nur deshalb nicht von vornherein abwehrte, um sich nicht dem Vorwurf der Befangenheit auszusetzen. Hubert Löffke kannte diese Phrasen ebenso. Wie oft hatten er und Löffke sich schon vor dem Hauptverhandlungstermin telefonisch oder bei ihren regelmäßigen Treffen bei einem Glas Rotwein darüber ausgetauscht, welch absurde Erklärungsversuche bei den Angeklagten zu erwarten waren. Deshalb sprachen sie sich ab, sich in den Verhandlungen nicht wechselseitig das Leben schwer zu machen. In dem einen Fall sprach Frodeleit frei, in dem nächsten verurteilte er. Die Urteile blieben jeweils knapp und ersparten sich langwierige Beweiswürdigungen. In den Verhandlungen, die auf eine Verurteilung des Angeklagten hinauslaufen sollten, hielt sich Löffke daher zurück, unterließ es, die Anklage zu hinterfragen und Beweisanträge zu stellen und beschränkte sich lediglich auf einige pflichtschuldige Sätze im Plädoyer, bevor er sich setzte und der Angeklagte in seinem letzten Wort all das vorzubringen versuchte, das doch Löffke als sein Verteidiger hätte in Worte kleiden sollen. War Büllesbach also einer derjenigen, die entsprechend dieser Vereinbarung verurteilt worden waren?
Frodeleit wagte nicht, die eigenartige Berufung zurückzuweisen. Natürlich war es unerheblich, dass sie in einem ordentlichen Verfahren verfristet war. Es war sonnenklar, dass es hier nicht um irgendwelche Verfahrensfragen ging, sondern einzig und allein darum, der von Büllesbach reklamierten Gerechtigkeit zum Ziel zu verhelfen. Löffke hatte sich gegen Frodeleit gewandt. Er wuchs aus der Rolle des Angeklagten hinaus, hatte sich auf Büllesbachs Seite geschlagen und geriet nun selbst zum Ankläger.
»Wie ist denn die Realität in solchen Fällen?«, fragte Frodeleit gereizt und laut in den Saal. »Wer will denn glauben, dass Angeklagte etwas nur versehentlich getan oder unterlassen haben, wenn alle Lebenswahrscheinlichkeit dagegen spricht? Ich habe noch nie den Fahrschein vergessen, wenn ich mit dem Bus gefahren bin. Du, Hubert? Und dann gleich zwei Mal hintereinander? Wie siehst du das denn, Hubert?«
Löffke schwieg. Natürlich würde er jetzt seinem Freund nicht zustimmen. Nach dem bestandenen Referendarexamen hatten beide an einem Freitagabend eine Zechtour durch die Innenstadt unternommen. In den ersten Lokalen hatten sie noch bezahlt, dann waren sie, schon reichlich angetrunken, in etliche überfüllte Kneipen eingekehrt, hatten jeweils ein Bier bestellt, es hastig ausgetrunken, sich anschließend aus dem Staub gemacht und die Zahl der geprellten Biere auf einem mitgenommenen Bierdeckel notiert. Ein Riesenspaß.
»Verantworten Sie sich, Herr Richter Frodeleit! – Jetzt kommt Licht ins Dunkel.«
In Büllesbachs Stimme schwang Genugtuung mit. Endlich war er an seinem Ziel angelangt. Endlich erklärte sich der Sinn des Schauspiels.
»Löffke hat Sie verraten«, antwortete Frodeleit Richtung Kamera.
»Aber Sie sind für mich der Wichtigere«, erwiderte Büllesbach.
Frodeleit sah auf seine Frau. Verena sagte nichts. Zu Hause hatte sie ihn immer darin bestärkt, hart gegen die Angeklagten vorzugehen. Sie war es, die ihn stets ermahnte, die Verfahren sauber zu halten. Dieser Appell war eigenartig, denn sie war ja der festen Überzeugung, dass die von ihrem Mann verhängten Urteile in der Sache richtig waren, aber irgendwie fühlte sie, dass die Verfahrensweise angreifbar war. Das Wort Unrecht sprach sie nie aus. Jetzt ließ ihn auch Verena im Stich. Sie hatte ihren Platz verlassen und war zu Marie, Stephan und Dörthe gegangen. Später würde
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