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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einem der abgewetzten alten Ledersessel am Fenster oder lieber auf einem Barhocker hinter dem Tresen. Lauren suchte sich den Barhocker aus, und Delphine setzte sich auf den anderen.
    »Magst du mir erzählen, was ihr heute in der Schule gelernt habt?«
    Lauren sagte: »Also …«
    Auf Delphines ohnehin nicht schmalem Gesicht machte sich ein Lächeln breit.
    »Das hab ich dich doch nur zum Spaß gefragt. Ich hab's immer gehasst, wenn ich das gefragt wurde. Zum einen konnte ich mich nie daran erinnern, was ich an dem Tag gelernt hatte. Und zum anderen hab ich nicht gerne über die Schule geredet, wenn ich sie hinter mir hatte. Also überspringen wir das.«
    Lauren war von dem offenkundigen Wunsch dieser Frau, sich mit ihr anzufreunden, nicht weiter überrascht. Sie war zu dem Glauben erzogen worden, dass Kinder und Erwachsene sich auf gleicher Ebene begegnen konnten, obwohl ihr aufgefallen war, dass viele Erwachsene das nicht verstanden und es manchmal besser war, nicht darauf zu bestehen. Sie erkannte, dass Delphine ein bisschen nervös war. Dass sie deshalb ohne Pause redete und an unpassenden Stellen lachte und auf die List verfiel, aus der Schublade einen Schokoladenriegel herauszuholen.
    »Nur ein bisschen was zu knabbern zu deiner Limo. Muss dir doch was bieten, damit du mich wieder besuchen kommst, hm?«
    Lauren schämte sich für die Frau, obwohl sie den Schokoriegel gerne annahm. Zuhause bekam sie nie etwas Süßes.
    »Sie müssen mich nicht bestechen, damit ich Sie besuchen komme«, sagte sie. »Ich komme gern.«
    »Oho. Muss ich gar nicht? Du bist mir ja eine. Na dann gib mir den zurück.«
    Sie griff nach dem Schokoriegel, und Lauren wich ihr aus. Jetzt lachte auch sie.
    »Ich meine, nächstes Mal. Nächstes Mal müssen Sie mich nicht bestechen.«
    »
Eine
Bestechung ist aber o.k. Richtig?«
    »Ich habe gern was zu tun«, sagte Lauren. »Außer einfach nach Hause gehen.«
    »Gehst du nicht zu deinen Freundinnen?«
    »Ich habe eigentlich keine. Ich gehe erst seit September in diese Schule.«
    »Also wenn die Bande, die immer hier reinkam, irgendwo typisch für das ist, was dir zur Auswahl steht, dann würde ich sagen, bist du ohne die besser dran. Wie gefällt dir diese Stadt?«
    »Sie ist klein. Einiges ist ganz hübsch.«
    »Sie ist ein Müllhaufen. Das sind alles Müllhaufen. Ich habe in meinem Leben schon so viele Müllhaufen kennengelernt, dass man meinen sollte, die Ratten hätten mir inzwischen die Nase abgefressen.« Sie betastete ihre Nase. Ihre Fingernägel passten farblich zu ihren Augenlidern. »Immer noch da«, sagte sie misstrauisch.
    *
    Das sind alles Müllhaufen
. Solche Sachen sagte Delphine. Sie drückte sich drastisch aus – sie diskutierte nicht, sondern stellte fest, und ihre Urteile waren streng und unberechenbar. Sie sprach von sich selbst – ihren Vorlieben, ihren Körperfunktionen – wie über ein gigantisches Geheimnis, etwas Einzigartiges und Endgültiges.
    Sie war allergisch gegen rote Bete. Wenn auch nur ein Tropfen Rotebetesaft den Weg in ihre Kehle fand, dann schwollen ihre Schleimhäute an und sie musste ins Krankenhaus, sie brauchte eine Notoperation, damit sie Luft kriegte.
    »Wie ist das mit dir? Hast du irgendwelche Allergien? Nein? Gut.«
    Sie war der Überzeugung, eine Frau musste ihre Hände pflegen, ganz gleich, welche Arbeit sie tat. Sie trug gerne tintenblauen oder pflaumenblauen Nagellack. Und sie trug gerne Ohrringe, große klappernde, sogar bei der Arbeit. Mit den kleinen Knopfdingern konnte sie nichts anfangen.
    Sie hatte keine Angst vor Schlangen, aber Katzen waren ihr unheimlich. Sie glaubte, als sie noch ein Baby war, musste eine Katze sich auf sie gelegt haben, angezogen von dem Geruch nach Milch.
    »Und was ist mit dir?«, sagte sie zu Lauren. »Wovor hast du Angst? Was ist deine Lieblingsfarbe? Bist du schon mal geschlafwandelt? Wirst du braun, oder kriegst du Sonnenbrand? Wachsen deine Haare schnell oder langsam?«
    Es war nicht so, als sei Lauren es überhaupt nicht gewohnt, dass sich jemand für sie interessierte. Harry und Eileen – besonders Harry – interessierten sich für ihre Gedanken und Meinungen und für das, was sie empfand. Manchmal ging ihr dieses Interesse auf die Nerven. Aber ihr war nie bewusst gewesen, dass es auch noch all diese anderen Dinge geben konnte, beliebige Tatsachen, die eine wunderbare Wichtigkeit annehmen konnten. Und sie hatte nie das Gefühl – wie sie es zu Hause hatte –, dass hinter Delphines Fragen noch andere

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