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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dass sie nicht als Ersatz geholt worden war? Wenn es ein wichtiges Ereignis gab, von dem sie nichts gewusst hatte, warum konnte es dann nicht noch eins geben?
    Diese Vorstellung war beunruhigend, hatte aber einen vagen Reiz.
    *
    Als Lauren das nächste Mal nach der Schule ins Hotel kam, hustete sie.
    »Komm mit nach oben«, sagte Delphine. »Da hab ich was Gutes dagegen.«
    Gerade als sie das
Bitte klingeln
-Schild hinstellte, kam Mr. Palagian aus dem Coffee Shop in den Empfangsraum. Am einen Fuß trug er einen Schuh und am anderen einen Pantoffel, der aufgeschnitten war, um einer Bandage Raum zu bieten. Da, wo der große Zeh sein musste, war ein getrockneter Blutfleck.
    Lauren dachte, dass Delphine das Schild wieder wegstellen würde, als sie Mr. Palagian sah, aber das tat sie nicht. Sie sagte nur zu ihm: »Sie sollten mal den Verband wechseln, wenn Sie können.«
    Mr. Palagian nickte, sah sie aber nicht an.
    »Ich bin gleich wieder unten«, sagte sie noch.
    Ihr Zimmer war im dritten Stock, unter dem Dach. Auf der Treppe fragte Lauren zwischen Hustern: »Was ist mit seinem Fuß passiert?«
    »Was für'n Fuß?«, sagte Delphine. »Kann sein, dass jemand draufgetreten ist. Vielleicht mit dem Absatz, hm?«
    Die Decke ihres Zimmers senkte sich in einer steilen Schräge zu beiden Seiten eines Dachfensters. Das Zimmer enthielt ein schmales Bett, ein Waschbecken, einen Stuhl und eine Kommode. Auf dem Stuhl stand eine Kochplatte, und darauf stand ein Wasserkessel. Die Kommode lag voll mit Make-up, Kämmen und Tabletten, einer Dose mit Teebeuteln und einer Dose mit Kakaopulver. Die Tagesdecke war aus dünnem, braunweiß gestreiften SeersuckerLeinen wie die auf den Gästebetten.
    »Nicht groß eingerichtet, wie?«, sagte Delphine. »Ich verbringe hier oben nicht viel Zeit.« Sie füllte den Kessel am Waschbecken und steckte den Stecker der Kochplatte in eine Steckdose, dann riss sie die Tagesdecke vom Bett, um eine Decke darunter hervorzuholen. »Zieh deine Jacke aus«, sagte sie. »Mummel dich in die Decke ein.« Sie fasste den Heizkörper an. »Dauert immer den ganzen Tag, bis hier ein bisschen Wärme ankommt.«
    Lauren tat wie geheißen. Zwei Tassen und zwei Löffel wurden aus der obersten Kommodenschublade geholt, Kakaopulver wurde aus der Dose verteilt. Delphine sagte: »Ich mache Kakao nur mit heißem Wasser. Du bist wahrscheinlich Milch gewöhnt. Ich nehme nie Milch in den Tee oder in was. Wenn ich welche hier hoch hole, wird sie nur sauer. Ich hab keinen Kühlschrank.«
    »Mit Wasser ist doch gut«, sagte Lauren, obwohl sie noch nie Kakao mit Wasser getrunken hatte. Sie verspürte plötzlich den Wunsch, zu Hause zu sein, eingekuschelt auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher.
    »Steh doch nicht so rum«, sagte Delphine in leicht verärgertem oder nervösem Ton. »Setz dich und mach's dir bequem. Der Kessel ist gleich soweit.«
    Lauren setzte sich auf die Bettkante. Plötzlich drehte Delphine sich um, packte sie unter den Armen – wodurch sie wieder zu husten anfing – und hob sie hoch, wodurch sie mit dem Rücken an der Wand saß und ihre Füße über die Bettkante ragten. Ihre Stiefel wurden ihr ausgezogen, und Delphine drückte rasch ihre Füße, um zu prüfen, ob ihre Strümpfe nass waren.
    Nein.
    »He. Ich wollte dir doch was gegen den Husten geben. Wo ist mein Hustensirup?«
    Aus derselben Schublade wie vorher kam eine Flasche halbvoll mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Delphine goss daraus einen Esslöffel voll. »Mund auf«, sagte sie. »Schmeckt gar nicht so scheußlich.«
    Nach dem Herunterschlucken sagte Lauren: »Ist da Whisky drin?«
    Delphine besah sich die Flasche, die kein Etikett trug.
    »Da steht nichts davon. Siehst du was? Werden deine Mami und dein Pappi fürchterlich schimpfen, wenn ich dir einen Esslöffel voll Whisky gegen deinen Husten gegeben habe?«
    »Mein Dad macht mir manchmal einen Toddy.«
    »Ach, ja?«
    Jetzt kochte das Wasser im Kessel und wurde in die Tassen gegossen. Delphine rührte hastig um, zerquetschte die Klümpchen und redete auf sie ein.
    »Na los schon, ihr Mistdinger. Macht schon.« Um Fröhlichkeit bemüht.
    Etwas stimmte heute nicht mit Delphine. Sie war zu hektisch und aufgeregt, vielleicht insgeheim wütend. Außerdem war sie zu groß, zu aufgetakelt und geschminkt für dieses Zimmer.
    »Du schaust dich hier um«, sagte sie, »und ich weiß, was du denkst. Du denkst, Mann, die muss aber arm sein. Warum hat sie nicht mehr Sachen? Aber ich häufe keine Sachen

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