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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Streitereien«, sagte er traurig. »Kann schon sein, dass das teilweise zugrunde liegt. Ihrer Hysterie zugrunde liegt. Weißt du, mir tut das alles sehr leid. Wirklich.«
    *
    Wenn sie ihre Spaziergänge unternahmen, fragte er sie hin und wieder, ob das, was er ihr erzählt hatte, ihr Probleme bereitete oder Kummer machte. Sie antwortete: »Nein« mit fester, recht ungeduldiger Stimme, worauf er sagte: »Gut.«
    Jede Straße hatte ihre Sehenswürdigkeit – das viktorianische Herrenhaus (jetzt ein Pflegeheim), der Backsteinturm, einziges Überbleibsel einer Besenfabrik, der Friedhof, der auf das Jahr 1842 zurückging. Und für ein paar Tage war ein Jahrmarkt da. Sie sahen zu, wie Trecker sich einer nach dem anderen durch den aufgewühlten Boden pflügten, sie mussten Paletten mit Zementbausteinen so weit wie möglich ziehen, und wenn sie ins Schlingern gerieten und die Zementbausteine herunterrutschten, mussten sie anhalten, und es wurde abgemessen, wie weit sie gekommen waren. Harry und Lauren suchten sich jeder einen eigenen Trecker aus, den sie anfeuerten.
    Jetzt kam es Lauren so vor, als habe jene Zeit in falschem Glanz gestrahlt, getragen von einer sorglosen, unbedarften Begeisterung, die nichts wissen wollte von der Last des Alltags und der Wirklichkeit, die sie mit sich herumtragen musste, seit die Schule angefangen und die Zeitung zu erscheinen begonnen hatte und das Wetter umgeschlagen war. Ein Bär oder ein Elch war ein echtes wildes Tier, das seinen eigenen Bedürfnissen nachspürte – es war nicht irgendein Nervenkitzel. Und sie hopste jetzt nicht mehr hoch und kreischte, wie sie es auf dem Jahrmarkt getan hatte, als sie ihren Trecker anfeuerte. Jemand aus der Schule konnte sie sehen und denken, sie ticke nicht richtig.
    Was nicht weit weg war von dem, was sie ohnehin von ihr dachten.
    Ihre Vereinzelung in der Schule beruhte auf Wissen und Erfahrung, was, wie ihr halbwegs klar war, wie Unschuld und Überheblichkeit wirken konnte. Die Dinge, die für andere verruchte Geheimnisse waren, waren das für sie keineswegs, und sie wusste nicht, wie sie das verbergen sollte. Und das war es, was sie von den anderen trennte, genauso sehr, wie die korrekte Aussprache von L'Anse aux Meadows zu wissen und den
Herrn der Ringe
gelesen zu haben. Sie hatte mit fünf Jahren eine halbe Flasche Bier getrunken und mit sechs an einem Joint gezogen, obwohl sie beides nicht gemocht hatte. Manchmal trank sie zum Abendessen einen Schluck Wein, und das mochte sie ganz gern. Sie wusste, was Oralverkehr war und was Homosexuelle taten und kannte alle Verhütungsmethoden. Sie hatte Harry und Eileen regelmäßig nackt gesehen, auch eine Gruppe ihrer Freunde nackt um ein Lagerfeuer im Wald. In denselben Ferien hatte sie sich mit anderen Kindern hinausgeschlichen, um zu beobachten, wie Väter aufgrund heimlicher Abmachungen in die Zelte von Müttern schlüpften, die nicht ihre Ehefrauen waren. Einer der Jungen hatte ihr Sex vorgeschlagen, und sie hatte eingewilligt, aber er kam nicht damit voran, und sie verzankten sich, und danach konnte sie ihn nicht mehr ausstehen.
    Das alles war hier für sie eine Last – es gab ihr ein Gefühl von Verlegenheit und eigentümlicher Traurigkeit, sogar von Benachteiligung. Und sie konnte nicht viel daran ändern, außer immer darauf zu achten, Harry und Eileen in der Schule Dad und Mom zu nennen. Was sie größer zu machen schien, aber nicht so klar. Ihre festen Umrisse verschwanden ein wenig, wenn so von ihnen die Rede war, ihre Persönlichkeiten wurden ein wenig undeutlich. In ihrer Gegenwart jedoch verfügte Lauren nicht über die Technik, das herbeizuführen. Sie konnte sich nicht einmal eingestehen, dass sie es dadurch leichter haben könnte.
    *
    Einige Mädchen in Laurens Klasse, die den Coffee Shop unwiderstehlich fanden, aber nicht den Mut aufbrachten hineinzugehen, betraten immer den Empfangsraum des Hotels und begaben sich dann auf die Damentoilette. Dort verbrachten sie eine viertel oder halbe Stunde damit, sich selbst und andere umzufrisieren, Lippenstift aufzutragen, den sie zumeist bei Stedmans gestohlen hatten, und sich gegenseitig an Hals und Handgelenken zu beriechen, nachdem sie sich im Drugstore mit allen freien Parfümproben eingesprüht hatten.
    Als sie Lauren fragten, ob sie mitkommen wolle, vermutete sie einen Trick, willigte aber trotzdem ein, nicht zuletzt, weil sie eine starke Abneigung dagegen empfand, an den immer kürzer werdenden Nachmittagen allein in das Haus am Waldrand

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