Trickser: Sammelband: Der Iril-Konflikt - Zwischen allen Fronten (German Edition)
Votivstatuette des Vatergottes Wandun fest in Händen. Sie betete stumm und inbrünstig die alte Litanei. Ich bitte dich um deinen Segen für diesen Ort. Ich wünsche mir, Kraft zu finden, wann immer du sie mir reichen magst. Erlaube mir, mein Amt in Würde und Weisheit zu führen, so wie du es unser Volk gelehrt hast. Darauf zitierte sie leise einige der Formeln, die sie seit ihrer Kindheit kannte und schon damals als kraftspendend empfunden hatte.
Vor ihr, in der Mitte des Quadrats, war der Schaft eines Speeres in den Boden gerammt. Indra stellte die Statuette Wanduns in die hohle Speerspitze. Dann nahm sie die nächste Götterstatuette und ging zum östlichen Rand des Votivortes. In einem der Findlinge stand ein kleiner Gitterkasten. Nach einem Gebet an den Gott des Windes, Wanduns Sohn Howal, legte sie die Statuette in den Kasten. Eine unscheinbare Figur, nicht größer als Indras kleiner Finger und aus ungefärbtem Holz geschnitzt, stand bereits in dem Kasten: Aren, Howals Frau, die durch ihre Heirat zur Göttin geworden war. Aren säte Zwietracht in der Götterfamilie, stiftete aber zudem Verträge und sprach Recht. Indra betrachtete diese Figur mit gemischten Gefühlen.
Auch den anderen drei Kindern Wanduns und ihren Vermählten brachte Indra Gaben dar, jedem spirituellen Element und jeder Himmelsrichtung, um diesen Ort zu ehren und ihren Aufenthalt auf Baikasch von den Göttern gesegnet zu wissen. Während ihres Studiums zur Rechtsprecherin war sie erstaunt gewesen, wie schwer es den meisten Kommilitonen und jetzigen Richtern fiel, Religion mit den Gesetzen der säkularen Welt zu vereinbaren. Wissenschaft und Wirtschaft, neben dem Kriegswesen die alles beherrschenden Kräfte des Merdianischen Reiches, ließen in den Augen vieler keinen Platz für Glauben und Theologie. Zwar erinnerte man sich immer noch an die Volkssagen, und kaum eine große Rede von Staatsleuten kam ohne einen Verweis auf die alten Texte aus, aber niemand nahm sich Wandun und sein Geschlecht als Leitbild für sein Leben. Man sah zu Kriegern auf, zu mächtigen Wirtschafts-Tycoonen oder klugen Wissenschaftlern, aber doch nicht zu Wesen aus Erzählungen, die jeder Geschichtsstudent als unwahr verlachen würde. Laut den heiligen Texten hatte Wandun die alten Naturgötter zähmen und unterjochen können, weil er ihre Geheimnisse entschlüsselte und sie für seine Zwecke nutzte. Nun glaubten seine Nachkommen das Wissen ihres Wiegenvaters soweit überholt, dass es seine Nichtexistenz bewies.
Für Indra Fey existierte er; irgendwo tief in ihrem Herzen glaubte sie an das, wofür Wandun stand. Sie fand Trost und Inspiration, Kraft und Klarheit in den alten Geschichten des Göttergeschlechts, in den Kämpfen, die sie gegen ihre Feinde und sich selbst führten, in den überlieferten Gesängen und Litaneien. Die moralischen Grundsätze, die Wandun seinen Kindern gab, bevor er zur Himmelsfahrt aufbrach, waren für Indra Fey selbst immer noch ein bestimmendes Maß. Anders die Richterin Fey, für sie galten die Menschengesetze. Die Gerechtigkeit, die die Richterin übte, war von Menschen gemacht, nicht von Göttern. Deswegen sind wir stets auf der Suche nach besseren Regeln; denn bis heute üben wir Gerechtigkeit nur.
Nach den Regeln Merdias war ihr Besuch und ihr Verhalten auf Rok nicht der Rede wert. Niemanden scherte es, dass sie als verheiratete Frau mit einem fremden Mann Sex gehabt hatte. Im Reich galt allgemein, dass sich jeder seine Sexualpartner vollkommen frei wählen durfte. Jemand im sozialen Rang Indras durfte sogar vier Ehepartner gleichzeitig haben – und niemand hatte einen Exklusivanspruch. Natürlich waren staatliche Gesetze und persönliche Ansprüche zwei ganz unterschiedliche Aspekte. Auch wenn ein Ehepartner rechtlich niemandem einen Vorwurf aus einem Seitensprung machen durfte, konnte er doch persönliche Konsequenzen ziehen; Scheidungen waren einfach.
Ein solches Verhalten war nicht im Sinne der Kirche. Wandun hatte unter seinen Kindern Ehen gestiftet für die Ewigkeit, und so sollten es die Menschen halten, die aus seiner Ahnenreihe stammen. Wenn Indras sexuelle Eskapade auf Rok keinen ihrer Männer stören würde – sie wusste, dass sie ein ebenso freies Sexualleben führten – spürte Indra hier, an ihrem Votivort, an dem sie Kontakt zu den Göttern suchte, Reue. Eine Gottesstrafe musste sie weder jetzt noch nach ihrem Tod fürchten. Im Gegensatz zu vielen anderen Religionen, gab es in der merdianischen keinen Ort, an dem
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