Tricontium (German Edition)
sagt, ich soll Euch das hier geben.«
Herrad las und sah dann auf. »Tut, was wir besprochen haben, Herr Wulf, und lasst Euch, wenn Ihr zurück seid, von Freda erklären, wo Ihr Euch vorerst einrichten könnt. – Und Ihr« – sie reichte Wulfila den Zettel – »seht Euch das hier an; ich denke, Ihr werdet mitkommen wollen.«
»Das klingt ja sehr verheißungsvoll«, sagte Wulfila, indem er ihr das kurze Schreiben zurückgab, das bis auf die mit Abstand am besten gelungene Unterschrift – Ardeiia – nur eine kurze, von lästigen Feinheiten wie einer Zeichensetzung gänzlich unbelastete Nachricht enthielt: kommt bitte schnell vogt darf nichts wissen . »Aber immerhin scheint er hier zu sein, und durchaus in der Verfassung, einen Brief zu schreiben.«
»So gut er es kann, ja.« Herrad stand bereits in der Tür. »Hättet Ihr ihm nicht ein wenig Bildung abgeben können, als Ihr ihn früher kanntet?«
»Ich habe ihm mehrfach gesagt, dass es ihm an Übung fehlt, was seine Schreibkünste betrifft«, sagte Wulfila fast entschuldigend, »aber er hat mir sehr überzeugend dargelegt, dass seine Steppenreitervorfahren beinahe uns erobert hätten und nicht umgekehrt, so dass der Nutzen der Schrift im Leben doch wohl nur oberflächlich sei. Da werden wir bei ihm nicht weiterkommen. Sagt mir lieber, wie ich ihm beibringen soll, dass ich seinen Drachen verloren habe.«
14. Kapitel: Begegnungen
Wulfila konnte sich mittlerweile recht gut erklären, wie die Reisekleider der Richterin in den beklagenswerten Zustand geraten waren, in dem sie sich in Tricontium befunden hatten. Wenn Herrad in Eile war, hielt sie sich nicht unbedingt an den Straßenverlauf, und es war durchaus nicht ohne besonderen Reiz, eine Dame in einem langen Umhang und den nüchternen Gewändern einer Rechtsgelehrten wild entschlossen eine Abkürzung quer über die überwucherten Grundmauern eines römischen Tempels hinweg einschlagen zu sehen, als sei das der Würde ihres Standes und ihrer Erscheinung nicht im Mindesten abträglich.
Was die Wahl des Weges betraf, konnte sie sich Wulfins uneingeschränkter Zustimmung sicher sein. Ein Gelände, auf dem man über Stock und Stein laufen und beweisen konnte, dass man auf schmalen, regennassen Mauerresten selbst dann seine Trittsicherheit nicht verlor, wenn man rannte, um hinter Herrad nicht zurückzufallen, war viel schöner als eine befestigte Straße, und selbstverständlich hätte es ihm noch besser gefallen, wenn der Ausflug bei einer leibhaftigen Zauberin geendet hätte. »Ist Asri die Barsakhanenhexe?«
Wulfila bereute halb, ihm auf der langen Wanderung nach Tricontium davon erzählt zu haben, wie Asri seinerzeit in Sala einmal sehr seltsame Dinge mit fremdartigem Räucherwerk, Kräutern und einem Tonkrug getan hatte, vorgeblich zur Behandlung einer Erkältung ihres Sohnes, in Wahrheit aber sicherlich, um ihn mit einem schützenden Zauber zu belegen. Zumindest hatte Wulfila das damals geglaubt und es hatte eine gute Geschichte abgegeben, um die Zeit zu verkürzen, doch es hörte sich alles ganz anders an, wenn man über eine Frau sprach, auf deren Türschwelle man bald stehen würde.
»Ja, Ardeijas Mutter«, sagte er und hoffte vergeblich, dass Herrad, die ihnen ein paar Schritte voraus war, nicht genau zuhören würde. Doch sein erster Eindruck war richtig gewesen; Frau Herrad entging nicht viel, und vor allem nichts Entscheidendes.
»So?«, fragte sie nämlich und blieb stehen, die Röcke zum Übersteigen einer gestürzten Säule weit genug gerafft, um erkennen zu lassen, dass die betonte Strenge der gewöhnlich sichtbaren Kleiderschicht durch eine Vorliebe für gestreifte Strümpfe aufgewogen wurde. »Als ich sie zuletzt gesprochen habe, war sie noch Seidenstickerin. Aber man hat ja schon von vielseitig begabten Leuten gehört … Ist irgendetwas mit meinen Beinen?«
»Ihr habt schöne Strümpfe; grün und gelb, das steht Euch.« Dass auch die Beine, die diese Strümpfe trugen, ganz hübsch geformt waren, sagte er lieber nicht. »Was nun Frau Asri betrifft, weiß ich nur, dass sie sich seinerzeit ganz gut mit Beschwörungsformeln und Kräutern auskannte. – Aber du solltest sie nicht geradewegs fragen, ob sie eine Barsakhanenhexe ist. Manche Leute sind etwas empfindlich und sprechen nicht gern offen über ihre Kunst.«
»Das ist ein weiser Rat«, bekräftigte Herrad, als sie wieder eine Straße erreichten, einen einfachen Bohlenweg, der aus dem südwestlichen Viertel von Aquae zum Marktplatz
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