Tricontium (German Edition)
nahm es genau.
»Ganz und gar!«, bestätigte Wulfila. »Es bleibt nicht einmal ein Haar übrig. Nur ein verblüfftes Pferd, das sich fragt, wo sein Reiter geblieben ist, und … Doch komm, Frau Herrad ist zurück, und wir wollen sie nicht erschrecken.«
Herrad nahm ihren vorherigen Platz beim Fenster wieder ein und strich ihre Röcke glatt. »Wenn Ihr mich erschrecken wollt, müsst Ihr Euch etwas Besseres einfallen lassen als Ardeijas Gespenstergeschichten; die kenne ich nämlich auch.«
Sie konnte Wulfilas enttäuschten Blick nicht genießen, erinnerte er sie doch daran, dass sie etwas vergessen hatte. »Ich habe vergessen, Otter Eure Grüße auszurichten. Aber das ist nicht schlimm, spätestens morgen wird er wieder hier sein, und wenn Ihr dann ebenfalls noch hier seid, könnt Ihr gleich selbst mit ihm sprechen.«
»Wenn ich noch hier bin, ja.« Wulfila lächelte, doch seine Wortwahl sagte Herrad, dass die unausgesprochene Frage nicht die nach ihrer Entscheidung über Wulf war.
»Wenn Euer Vater bleibt, werdet Ihr und Euer Sohn doch wohl auch bleiben«, erwiderte sie, »denn ich habe nicht den Eindruck, dass Ihr wisst, wo Ihr sonst für den Winter unterkriechen sollt. Und ob Euer Vater bleibt, klären wir gerade. – Wie war das nun mit dem Amulett? Ich will eine gute Geschichte hören, Ihr hattet viel Zeit, Euch eine auszudenken.«
»Das habe ich über die Dämonen dort leider versäumt. Ihr werdet Euch wohl mit der Wahrheit begnügen müssen.« Wulf klang aufrichtig bedauernd; vielleicht hätte er seinen Einfallsreichtum lieber unter Beweis gestellt als seine Ehrlichkeit. »Ich wusste, dass es ein Amulett war, das er selbst geweiht hatte. Es war ein Geschenk von jemandem, der es seinerseits einmal bei Malegis in Auftrag gegeben hatte. Auf ein Amulett, das man selbst geweiht hat, lügt man nicht, wenn man die Sache auch nur halbwegs ernst nimmt. So leicht kann man einem Amulett seine Kräfte nicht wieder nehmen, und so wusste ich, dass Malegis vor der Wahl stehen würde, entweder die Wahrheit zu sagen oder aber zu lügen und damit im Falle einer Entdeckung seine eigene Zaubermacht als nicht gar so mächtig zu entlarven. Das hätte er gewiss nicht gern getan.«
Herrad kannte sich nicht gut genug mit Zaubereien und Beschwörungen aus, um beurteilen zu können, ob etwas an dieser Erklärung war, doch sie klang mehr oder minder glaubhaft. »Dann bleibt mir nur noch eine Frage zu stellen«, sagte sie und lehnte sich zurück. »Was habt Ihr überhaupt in Tricontium getrieben? Und wiederholt mir nicht, dass es Euch nur um das Heidekraut für den toten Markgrafen gegangen wäre!«
»Es hätte wohl keinen Sinn, es Euch länger verschweigen zu wollen«, sagte Wulf erstaunlich bereitwillig und ließ mit einer flüssigen Bewegung aus dem linken Ärmel einen unscheinbaren Schlüssel in seine Handfläche gleiten. »Belogen habe ich Euch aber nicht; ich wollte Otachar sein Heidekraut bringen, zum Dank hierfür.«
Herrad runzelte die Stirn. Der Schlüssel war so gewöhnlich, dass er zu jeder Kleidertruhe oder Speisekammertür hätte gehören können. »Wollt Ihr Euch über mich lustig machen? Was soll das sein?«
»Der Schlüssel zu Otachars Kriegskasse«, gab Wulf unbewegt zurück. »Ich wusste seit dem Krieg, wo ich ihn würde finden können, und jetzt weiß ich auch, wo die Truhe ist, zu der er gehört. Ich war dumm genug, das Geld in all den Jahren nicht anrühren zu wollen. Doch als sie uns aus Corvisium hinausgeworfen haben, ist das Abwägen zwischen ehrenhafter Zurückhaltung und einem erträglichen Winter etwas anders ausgefallen als sonst. – Ihr werdet den Schlüssel an Euch nehmen wollen, nicht wahr?«
»Ich habe im Augenblick bedauerlicherweise kein Recht, ihn in aller Form einzuziehen«, sagte Herrad und nahm ihm den angebotenen Schlüssel dennoch aus der Hand, überrascht, wie kalt sich das Metall anfühlte, obgleich es doch schon eine Weile auf warmer Haut gelegen hatte. »Aber zulassen, dass Ihr Euch in Schwierigkeiten bringt, werde ich auch nicht. Bin ich Euch in Tricontium in die Quere gekommen, als Ihr die Truhe ausnehmen wolltet?«
Wulf lächelte. »Nein. Man kann Otachar viele Vorwürfe machen, aber nicht den, sich niemals klug bedacht zu haben. Tricontium war zu gefährdet. Otachar wusste gut genug, dass es verlockend gewesen wäre, den Ort zu überfallen, wenn die Mehrzahl der Krieger, die ihn sonst schützten, im Westen gebunden war, für umherstreifende Barsakhanen ebenso wie für jeden
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