Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
um, der auf der Rückbank saß. Eigentlich wollten sie ihn zu seiner Mutter bringen, hatten ihn aber dann, einer Eingebung folgend, nach Zepernick mitgenommen. »Kennst du diesen Mann dort drüben?«
Fugmann ließ den Müllbeutel in den Abfalleimer fallen und blickte schnell in beide Richtungen der Straße, bevor er sich zurück ins Haus begab.
André antwortete nicht.
»Und? Kennst du ihn?«
»Weiß nicht.«
Es klang wie das genaue Gegenteil. »Na, dann denk mal scharf nach.«
»Keine Ahnung.«
»Hast du ihn schon einmal in der Wohnung gesehen?«
»Weiß nicht.«
»War er mit dir in dem Schlafzimmer?«
André zuckte mit den Schultern. Konnte er sich nicht daran erinnern, oder wollte er nicht? Hatte er vor jemandem Angst? Vor Fugmann?
Wurde der Junge vielleicht doch bedroht? Aber auf seinem schmalen Gesicht zeigten sich keinerlei Anzeichen von Furcht.
»Wartet hier!« Kalkbrenner stieg aus dem Wagen.
Der Arzt schien nicht sonderlich überrascht über den neuerlichen Polizeibesuch zu sein. Umhüllt vom aromatischen Duft einer Zigarre führte er Kalkbrenner in sein Arbeitszimmer. Die Regale, die bis zur Zimmerdecke ragten, waren mit alten, vergilbten Folianten gefüllt.
Gottes Sohn als Mensch
,
Der Willensbegriff Maximus Confessors
,
Bücher
,
Menschen und Kulturen
und
Obligationes Parisienses.
Keiner der Titel sagte Kalkbrenner etwas.
Am Fenster stand ein wuchtiger Holzschreibtisch, der vermutlich so schwer war, dass er schon seit Jahrhunderten nicht von der Stelle bewegt worden war. Den Stapel Fachzeitschriften, der auf der Schreibtischplatte thronte, bedeckte eine dicke Staubschicht.
Kalkbrenner versank in dem tiefen, weichen Polster eines Sofas, und Fugmann knöpfte sich das Jackett auf. »Geht es wieder um den tragischen Tod von Herrn Radomski?«
»Nein, es geht um Ihre Wohnung in der Schillerpromenade.«
»Was ist damit?«
»Sie bestreiten also nicht, dass Sie die Wohnung angemietet haben?«
Fugmann paffte an seiner Zigarre. »Wieso sollte ich?«
»Und warum haben Sie diese Wohnung?«
»Die Wohnung ist eine Art … Hm, wie soll ich Ihnen das erklären? Sie ist ein Obdach für junge Menschen. Dort sind sie vor den Unwägbarkeiten der Straße geschützt, sie können zur Ruhe kommen, sich vergnügen.«
»Ein zweifelhaftes Vergnügen, wie mir scheint.«
Fugmann sah ihm direkt in die Augen. »Hätten Sie vielleicht die Güte, mir Ihren sarkastischen Unterton zu erklären?«
Die Gefahr war groß, der Gelehrtheit und achtbaren Seriosität des Arztes auf den Leim zu gehen. Aber Kalkbrenner wollte sich von
Johannes Zürn
,
ein Herrenalber Schreibermönch
,
Das abenteuerliche Leben des Drachen Meris
und
Der heilige Jodocus
nicht verunsichern lassen. »Gehören Ihnen der Fernseher, die PlayStation und …«
»Selbstverständlich.«
»… und das Schlafzimmer?«
»Natürlich, das ist für Kinder gedacht, die für eine oder zwei Nächte eine warme Unterkunft brauchen.«
»Und was ist mit den Pornofilmen und den Drogen?«
Fugmann legte die Zigarre in Zeitlupentempo in den Ascher, lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Hände aneinander. »Ich weiß, das ist schlimm, aber es lässt sich bei den Jugendlichen wohl nicht vermeiden. Sie können sich sicherlich deren sozialen Hintergrund vorstellen, und …«
Kalkbrenner konnte nicht mehr an sich halten. »Und im Grunde ist es Ihnen scheißegal, was die Kinder in der Wohnung treiben, oder?«
»Ich verstehe nicht ganz?« Fugmann zog empört eine Augenbraue hoch.
»Hauptsache ist doch, die Kinder zeigen sich erkenntlich. Ihnen und …?« Kalkbrenner hielt inne. Wie weit konnte er gehen? Nein, wie weit sollte er gehen?
Aber manchmal half es, die Leute bei einer Vernehmung mit der ungeschminkten Wahrheit zu konfrontieren. »Ihnen und den anderen Männern.«
Der Arzt zeigte keine Reaktion. »Was werfen Sie mir vor, Herr Kommissar?«
»Ganz sicher nicht das Rauchen.«
Fugmann zog an seiner Zigarre, behielt den Qualm eine Weile genüsslich im Mund und stieß ihn dann wieder aus. Dichter Nebel räucherte das Zimmer ein. Er war wie der Nebel in diesem Fall, in dem Kalkbrenner blindlings herumstocherte. »Dass ich die Kinder bei der Kälte von der Straße hole? Ihnen für einige Stunden ein warmes Dach über dem Kopf gebe? Dass ich das tue, was die Eltern der Kinder nicht schaffen. Und worum sich die Behörden, Ihre
Behörden, Herr Kommissar, schon lange nicht mehr kümmern.«
»Und das gibt Ihnen das Recht, sich an den Kindern zu
Weitere Kostenlose Bücher