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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Nacht war viel zu kurz gewesen. Bis in den späten Abend hatte er mit Leonie spielen müssen, und schon am frühen Morgen hatte sie ihn auf dem Sofa geweckt, um ihn als menschgewordenen Punchingball zu missbrauchen. Ach ja, das Familienleben.
    Gähnend vergrub er den Kopf in dem Kragen seiner Jacke. Um sich zu beschäftigen, begann er, die Sekunden und Minuten zu zählen. Kleine Atemwölkchen formten sich vor seinen Lippen, als er halblaut vor sich hin murmelte.
    In einigen Läden der Karl-Liebknecht-Straße glitzerten noch Christbäume und Sterne, doch in den meisten Schaufenstern war der Adventsschmuck bereits von Faschingsdekoration abgelöst worden. Plakate warben für den morgigen verkaufsoffenen Sonntag. Schon seltsam.
Die Leute hatten doch noch nicht einmal den vorweihnachtlichen Kaufrausch richtig verdaut. Aber Konsum musste anscheinend sein. Besonders in Zeiten wie diesen.
    Jäh legte sich ein Schatten auf ihn, und er zuckte überrascht zusammen. Karin freute sich diebisch. »Hab ich dich erschreckt?«
    »Würdest du dich besser fühlen, wenn ich Ja sage?«
    »Nun, ein bisschen schon.« Sie warf ein schmales Kuvert in seinen Schoß.
    »Das ist alles?« Aus dem Umschlag glitt eine schmucklose Plastikhülle mit unbeschrifteter CD.
    »Eine CD-ROM«, sagte Karin. »Sie wird die Informationen enthalten, die dein …«
    »Na, herzlichen Dank. Ich mag zwar von Computern im Allgemeinen keine Ahnung haben, aber eine CD-ROM kenn ich gerade noch.«
    »Ist ja gut, Harald, war nicht so gemeint. Jetzt krieg dich wieder ein. Was hast du nun vor?«
    Er legte die Parkscheibe aufs Armaturenbrett, stieg aus und verriegelte den Wagen. »Ich statte der Redaktion einen Besuch ab und schaue nach, was sich auf der CD befindet.«
    »Und dann?«
    »Was soll dann sein?«, fragte er unbedarft.
    Karins Miene verdüsterte sich bedrohlich.
    »Ja, natürlich. Dann gehe ich sofort zur Polizei«, fügte er rasch hinzu. »Ich werde mit denen reden und ihnen die CD geben. Wie ich es dir versprochen habe.«
    Trotz seiner offensichtlich ehrenwerten Absichten schaute seine Exfrau keineswegs freundlicher. »Warum habe ich so ein ungutes Gefühl, Harald?«
    »Warum fragst du mich das?«
    Karin trat einen Schritt auf ihn zu. »Du wirst trotzdem deine Story schreiben, oder?«
    »Natürlich, warum denn auch nicht?«
    »Ich dachte, du würdest die Finger davonlassen?«
    »Ich habe dir versprochen«, sagte er, »die Unterlagen der Polizei auszuhändigen, und das werde ich auch tun. Aber warum sollte ich deswegen auf einen Artikel verzichten? Ich bin schließlich Journalist.«
    »Und du bist auch Vater!«
    »Ja und? Als Vater muss ich meine Arbeit machen, mit der ich den Unterhalt für meine Kinder verdiene.«
    »Wenn du ihn wenigstens bezahlen würdest.« Karin seufzte tief, und Wut ließ ihre Augen funkeln. Sie standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. »Und solange du das nicht tust, solange du deine Kinder stattdessen in Gefahr bringst, solange brauchst du dich nicht mehr bei uns blicken lassen, Harald. Halte dich von Leonie und Till fern, und lauf auch mir nicht über den Weg, verstanden?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie ins Hotel zurück.
Halte dich von Leonie und Till fern.
Ihre Worte schnitten ihm ins Herz. Selbstverständlich konnte er ihre Sorge verstehen, aber er hielt sie für vollkommen unbegründet. Spätestens gegen Mittag würde er die CD mit allen wichtigen Daten, so sie denn überhaupt welche enthielt, bei der Polizei abgeliefert haben – selbstverständlich nachdem er einen Artikel über den Skandal geschrieben hatte. Das war sein Job. Und sein Bedürfnis. Danach lag der Fall in den Händen der Ermittler, und die Riesensauerei würde bald vom Tisch sein. Wo also lag das Problem? Frauen!
    Im Foyer des Verlagshauses schnappte er sich vom Empfangstresen die aktuelle Ausgabe, deren Titelseite er auf dem Weg in die sechste Etage überflog.
Großaufgebot sucht nach vermisstem Jungen: Manuel (10) verschwunden.
Den Bericht über Till und die Haflingerdressur fand er im Sportteil. Schnell tippte er eine SMS an seinen Sohn:
Schon den
Kurier
gelesen? Ich bin stolz auf dich!
Der Artikel würde Till für den verkorksten Samstag, wenn es denn für seinen Sohn einer werden sollte, entschädigen.
Wozu hat man denn einen Vater bei der Zeitung?
    Bis auf das Tastaturgeklapper der wenigen Kollegen, die für die Samstagsschicht eingeteilt waren, hielt sich der Betrieb in der Redaktion in

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