Trieb
lassen
,
Harald. Halte dich von Leonie und Till fern.
Ihm war der Appetit vergangen. Er bezahlte die Currywurst und suchte in seiner Rostlaube Zuflucht. Aber der Polo bot keine dauerhafte Unterkunft, nicht zu dieser Jahreszeit.
Und diese Nacht soll’s schon wieder schneien.
Er verpasste der Heizung einen so wütenden Klaps, dass der Wärmeschalter mit einem lauten Knirschen abbrach.
»Scheiße!«
Bleierne Müdigkeit legte sich auf ihn. Die letzten zwei Tage hatten ihm zu viel abverlangt. Er brauchte dringend Ruhe. Und viel Schlaf. Noch so einen Tag würde er nicht überstehen.
Er beschloss, auf der Prenzlauer Allee nach Pankow zu fahren. Am äußersten Stadtrand breitete sich linker Hand eine Neubausiedlung aus. Das Viertel war überschaubar und wirkte in den späten Abendstunden ungeheuer friedlich. Was allerdings vor allem daran lag, dass eine Vielzahl der Einfamilienhäuser nicht bewohnt war.
Nein
,
falsch: nicht bewohn
bar
ist.
Die Dächer waren undicht, die Mauerwerke feucht. In den Zimmern tummelte sich der Schimmel. Als einer der Betroffenen hatte Sackowitz seine Stellung in der Redaktion genutzt und die Sache zu einer mittelschweren Skandalstory aufgebauscht:
Linker Wessi-Unternehmer betrügt junge Familien.
Kurz danach war der Geschäftsführer der Immobiliengesellschaft, welche die Siedlung nach der Wende regelrecht aus dem Boden gestampft hatte, in die Insolvenz abgetaucht. Das dafür verantwortliche spottbillige Bauunternehmen, das ihm als Tochterfirma ebenfalls gehörte, folgte Tage später.
Nur wenige Eigentümer hatten nach der Pleite noch die finanziellen Mittel besessen, die Mängel auf eigene Faust zu beheben. Die restlichen Häuser waren verwaist und verrotteten. Dennoch besaßen sie in Sackowitz’ gegenwärtiger Situation einen unbestreitbaren Vorteil. Hier würde kaum jemand nach ihm suchen. Um aber auf Nummer sicher zu gehen, steuerte er nicht sein eigenes Haus an, mit dem er und Karin in ihr Unglück investiert hatten, sondern eines drei Straßen weiter. Es gehörte Kurt Hirschmann, dem Anzeigenberater beim
Kurier.
Er nahm die Notfalldecke, die er immer dabeihatte, aus seinem Polo und gelangte über die Terrassentür, deren Fenster er einschlug, ins Innere. Dann machte er sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Er fand es auf Anhieb. Die Neubauten waren damals am Reißbrett entworfen worden.
Der Schimmel hatte das Ehebett bereits an einigen Ecken zerfressen. Wohl deshalb hatte es Hirschmann beim Umzug gar nicht erst hinausgeschleppt, sondern einfach an Ort und Stelle stehen lassen. Sackowitz ließ sich seufzend auf der modrigen Matratze nieder. Für den Moment war die Schlafstätte allemal besser, als in seinem Auto zu frieren. Außerdem war es ja nur für eine Nacht. Mit diesem beruhigenden Gedanken rollte er sich in seine Decke.
Er schloss die Augen, konnte aber trotz der Erschöpfung nicht einschlafen. Seine Glieder schmerzten bei jeder Bewegung, und seine Gedanken rasten in einer Endlosschleife durch seinen Kopf. Er zwang sich zur Ruhe: Schließlich gab es nichts, was er jetzt noch tun konnte. Die Straßenlaternen warfen die Schatten der kahlen Bäume an die Wand. Manchmal fuhr ein Auto vorbei. Dann richtete sich Sackowitz auf und behielt die Scheinwerfer so lange im Auge, bis sie in der Dunkelheit zerfaserten. Er wusste nicht, wie oft sich das Spiel in dieser Nacht wiederholte.
104
Tabori tauschte Jeans und Pullover gegen den gemütlichen Jogginganzug. Das Foto, das Aidan ihm gegeben hatte, legte er auf den Nachttisch in Fritz’ Zimmer.
»Wer ist das?«, fragte Ludwig interessiert, als er im weißen Bademantel den Raum betrat. Sein Haar war vom Duschen noch ganz nass, sodass er sich mit einem Handtuch den Kopf trocknete.
»Das ist Mama. Und Mickael. Bruder.«
»Was ist mit ihm?«
»Ist krank.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
»Deine Mutter ist sehr schön.«
»Ja, Mama ist schön.«
»Bestimmt hat sie viele Verehrer?«
Wenn es das hieß, was er dachte, wollte Tabori darüber noch viel weniger reden als über seinen Bruder. »Du hast Fotoapparat. Ich möchte bitte Foto. Ich will Mama zeigen, wer geholfen hat.«
»Ich soll ein Foto von dir machen?«
»Nein, von Ludwig und
Tabori.«
»Wenn du das willst, gerne.«
Falls Ludwig sauer war, weil Tabori sich in seinem Schlafzimmer umgesehen hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er holte den Fotoapparat und startete den CD-Player.
Watch out. Stay awake
,
rockten Tokio Hotel.
They’re lurking. Obsess you. They are always
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