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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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endlich wieder zu akzeptieren schien. Wie schnell sich manche Dinge änderten, zum Guten wie zum Schlechten.
Er war doch noch vorgestern bei mir.
Er schob den Gedanken beiseite und fühlte sich befreiter.
Mit einem Lachen lässt sich vieles leichter ertragen.
Vielleicht würde er in dieser Nacht ja doch noch etwas Schlaf bekommen.

106
    Durch den kleinen Schlitz der Jalousie stahl sich gelbes Laternenlicht. In dem schmalen Streifen, der das Zimmer durchkreuzte, wirbelten kleine Staubpartikel umher. In lähmender Langsamkeit fielen sie zu Boden, als kämpften sie sich durch die dicke Luft. Allein dabei zuzusehen kostete Kraft. Aber als sie auf dem Schrank landeten, dem Schreibtisch, dem Bett, der Decke und schließlich auch noch auf Annas Brust und die Abertausende klitzekleiner Flocken sich dort zu einem flächigen Teppich vereinten, raubte ihr Gewicht Anna fast den Atem. Ihre Knochen drohten zu brechen und ihre Gedärme zu platzen.
    Sie schnappte hektisch nach Luft, und der Schmerz breitete sich unvermittelt in ihrer Magengegend aus. Ihre Blase verlangte nach Entleerung, aber Anna wollte sich nicht bewegen, nicht aufstehen, nicht aus dem Zimmer gehen.
    Eine ganze Weile gelang es ihr, das Bedürfnis zu verdrängen. Sie klammerte sich an einen Teddybären, der irgendwie seinen Weg in ihre Arme gefunden hatte. Sie schaukelte ihn wie ein kleines Baby, das es zu beruhigen galt, aber in Wahrheit war er es, der ihr Trost spendete.
    Schließlich wurde das drängende Gefühl schier übermächtig. Sie hatte Angst, es würde sie zerreißen, also mühte sie sich von der Matratze, ohne von dem Teddybären abzulassen. Sie drückte ihn an ihre Brust und lief ins Bad.
    Es klopfte an der Badtür. Das Pochen schien wie aus einem anderen Universum zu kommen. »Anna, ist alles in Ordnung?«
    Sie betätigte die Spülung.
    »Möchtest du duschen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Soll ich dir frische Klamotten bringen?«
    Sie lauschte in die Stille der Wohnung. Offenbar stand Alan vor der Tür in der Diele und tat genau das Gleiche. Am Waschbecken stach ihr Manuels grüne Zahnbürste ins Auge und traf ihr Herz. Anna musste wieder in sein Zimmer, anders würde sie es nicht aushalten. Im Flur, den Alan anscheinend schon wieder verlassen hatte, bohrte sich ein spitzer Gegenstand in ihre Fußsohle. Der Schmerz war so überraschend, dass sie stolperte und auf die Knie fiel. Der Teddybär purzelte ihr aus den Händen und zu Boden.
    Eine fingernagelgroße Plastikfigur hatte sich in ihren Fuß gebohrt. Es war ein ganz in Grün gekleideter Soldat, der mit seinem Gewehr im Anschlag auf ein imaginäres Ziel feuerte.
Anna sah sich um. In den Teppichfasern unter der Garderobe gingen drei, vier weitere dieser Kämpfer in Deckung.
Manuel und seine Unordnung.
    Sie nahm den Soldaten, in den sie getreten war, in die Hand und umschloss ihn liebevoll mit ihren Fingern. Dann packte sie den Teddybären und humpelte zurück zum Bett ihres Sohnes. Kaum hatte sie sich hingelegt, setzte sie sich wieder auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie presste den Teddybären eng an sich und tapste zurück in den Flur.
    Es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sie musste sich jetzt konzentrieren. »Alan, hier liegen Soldaten.«
    Aus der Küche brummte ihr Mann etwas Unverständliches.
    »Hast du gerade ›Scheiße‹
gesagt?«
    Eine Zeitung raschelte. »Nein, ich sagte: Weiß nicht.«
    »Sind die Figuren von dir?«
    Das Klappern der Garderobenbügel, an denen sie rüttelte, übertönte Alans Antwort. Aus seiner Winterjacke fiel ein weiterer Satz winziger Plastikmännchen zu Boden. »Alan?«
    »Was soll ich denn mit Soldaten wollen? Sie gehören bestimmt Manuel.«
    Anna hob die Figuren vom Boden auf und legte sie auf den Küchentisch. »Die waren aber in deiner Tasche.«
    »Dann hat sie Manuel wahrscheinlich letzte Woche hineingetan, als er bei mir war.«
    »Aber Manuel hatte solche Figuren nicht. Er mochte keine Soldaten. Er stand auf die Simpsons.«
    Alan faltete die Zeitung. »Bist du dir da sicher?«
    Wie versteinert stand Anna auf den Fliesen. Ihre nackten Füße waren kalt. »Was … willst … du … damit … sagen?«
    »Na ja, ich meine, du wusstest ja auch nichts davon, dass er …«
    »… heimlich durch die Stadt strolcht? Ist es das, was du mir vorwerfen willst?«
    »Nein, Anna, ich will dir gar nichts vorwerfen. Das ist doch alles Blödsinn.« Alan erhob sich und füllte die Kaffeemaschine mit Wasser auf. »Die letzten Tage waren für uns beide

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