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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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schwarzen Schal, eine gewöhnliche Jeans, dazu ein Shirt mit dem Kopf von Bart Simpson
und dem Aufdruck
Spider-Schwein.
Besonderes Merkmal war eine Anstecknadel mit der Simpsons-Familie. Auch der blaue Rucksack, den er bei sich hatte, als er das letzte Mal gesehen worden ist, wird vermisst.«
    »Dann sollten wir eine Suchmeldung danach herausgeben«, beschied Kalkbrenner.
    »Wird erledigt«, versprach Veckenstedt.
    Der Kommissar sah auf die Uhr. »Und danach, Herr Veckenstedt, machen Sie Feierabend und schlafen sich mal aus.«
    Veckenstedts erschöpfter Blick streifte Manuels Porträt. »Als ob ich jetzt Schlaf finden könnte.«

102
    Eingewickelt in die Simpsons-Bettwäsche krümmte sich Anna wie ein Baby auf Manuels Matratze. Wie war sie in das Zimmer ihres Sohnes gekommen? Für einen Moment blendete ihr Gedächtnis die Antwort aus, und aus Gründen, die sie nicht verstand, fühlte sie sich grenzenlos erleichtert. Doch in der nächsten Sekunde wurde ihr bereits wieder heiß und kalt:
Du bist davongelaufen! Weg von den Beamten
,
die dir weismachen wollten
,
dass … Nein
,
das ist nicht wahr!
Sie wollte das nicht denken. Durfte es nicht. Wütend schleuderte sie die Decke von sich und richtete sich auf.
    Alan stand aufrecht im Zwielicht des Zimmers. Er war wieder heimgekehrt. Seine Miene war unergründlich und zugleich erschreckend wahrhaftig. Der Anblick ließ sie sich wieder zurück auf das Bett werfen. Sie verkroch sich erneut unter der Decke, aber es gab kein Entkommen vor der Wahrheit.
    Inmitten des immer stärker werdenden Entsetzens klammerte sie sich an den letzten Funken Hoffnung. »Es war ein Unfall, oder?«
    Alan schwieg.
    »Sag es mir!«, verlangte sie.
    »Sie können es noch nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es deutet alles darauf hin, dass …«
    Annas Kehle zog sich zusammen. Sie würde ersticken. Panisch schnappte sie nach Luft. »Nein, das kann nicht sein! Manuel wurde nicht umgebracht.« Ihr Kopf zuckte herum. »So was macht doch niemand.« Sie schlug die Hand vors Gesicht und gab einen Schrei von sich, der in ein bitterliches Wimmern überging.
    Irgendwann hatte sie das Gefühl, an ihren Tränen zu ertrinken. Nina hockte wie ein Häufchen Elend neben ihr auf der Matratze. Wann war ihre Freundin gekommen?
Habe ich geschlafen?
Anna konnte sich an nichts erinnern, auch an keinen Traum. Nur an Manuel am Frühstückstisch, Manuel im Bett, Manuel auf dem Schulweg, Manuel voller Angst, Manuel war tot … Sie wurde von Gedanken und Bildern überwältigt, denen sie hatte entfliehen wollen, denen sie aber nicht entkommen konnte. Ihre Bluse war nass von den Tränen, die sie ununterbrochen vergossen hatte, alleine, einsam, verlassen in Manuels Bett. »Alan?«
    »Er musste etwas erledigen«, sagte Nina.
    Was gibt es denn jetzt noch Wichtiges zu erledigen?
    »Es tut mir so leid.«
    Anna vergrub ihr Gesicht unter der Decke.
    »Wenn ich etwas für dich tun kann …«
    Die Bettwäsche roch nach dem Nachtschweiß ihres Kindes, unverwechselbar nach Manuel.
    »Ich habe dir Tee gemacht.«
    Anna stöhnte in den Stoff hinein.
    »Er wird dich beruhigen.«
    Manuel beruhigte Anna.
Nur Manuel.
Die Zeit verrann, vielleicht stand sie auch still. Egal, es war alles egal. Es gab nichts mehr zu tun.
    Nina zog die Jalousie nach oben und öffnete das Fenster.
    »Nein!« Anna fuhr auf.
    Erschrocken verriegelte Nina das Fenster wieder. »Ich dachte nur, ein bisschen frische Luft würde …«
    »Nein!« Anna roch den Staub, Dunst, alles, was im Zimmer schwebte, was da gewesen war, als auch Manuel noch da gewesen war, als würde es ihr auf diese Weise gelingen, ihren Sohn am Leben zu halten. Tatsächlich glaubte sie für einen Moment, Manuel direkt neben sich zu sehen. Entrückt zog sie die Beine an den Körper, legte die Arme um die Knie und betrachtete die Teddybären, die Poster, die PlayStation,
mit der Manuel Stunden verbringen konnte. Sie ließ das Spielzeug nicht aus den Augen, den Wimpel von Hertha BSC genauso wenig wie die Simpsons
-
Figuren.
    Die Melodie eines Liedes ging ihr durch den Kopf. Leise begann Anna zu summen.
Spider-Schwein
,
Spider-Schwein
.
Ja
,
ich bin das Spider-Schwein, Spider-Schwein.
Ihr wurde bewusst, dass es das letzte Lied gewesen war, das sie mit Manuel morgens gehört hatte. Und dann? Dann hatte sie ihn ausgeschimpft.
Bin ich wirklich so schrecklich?
Sie verdrängte Manuels bange Frage, wollte nur an die glücklichen Momente denken, an die Simpsons,
an die Kartoffelchips und die Ahoi-Brause.
    Wie

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