Triestiner Morgen
er legt sich auf die Atemwege.«
»Atemberaubend, ja, das ist das richtige Wort.«
Sie nimmt ein kleines Flakon aus ihrer Handtasche und riecht daran.
»Man könnte die Kellnerin bitten, die Tür einen Spalt zu öffnen«, schlägt der Weißhaarige vor.
»Dann zieht es, und Durchzug ist noch viel schädlicher als verbrauchte Luft. Ich habe mich extra zur Wand gesetzt, weil man hier geschützter ist als vorne bei den Fenstern. Außerdem ist man an den hinteren Tischen den neugierigen Blicken des Bahnhofspersonals weniger ausgesetzt. Am Fenster kommt man sich wie in einer Auslage vor.«
»Das Bahnhofspersonal interessiert sich nicht im geringsten für die Leute, die hier täglich ein- und ausgehen. – Das ist nun einmal so auf Bahnhöfen, Leute kommen und gehen«, fügt er schmunzelnd hinzu.
»Aber die Reisenden ...«
»Die sind so beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten, daß sie auch keinen Blick für andere übrig haben, nicht einmal für eine außergewöhnlich schöne Frau.«
Er deutet eine kleine Verbeugung an.
Sie schaut zur Tür. »Vielleicht sitze ich auch gern an der Wand, weil ich von hier aus das ganze Lokal überblicken kann.«
»Ihnen entgeht tatsächlich nichts. Nicht Sie werden beobachtet, sondern Sie beobachten die anderen. Es scheint fast, als würden Sie auf jemanden warten.«
»Vielleicht warte ich tatsächlich auf jemanden.«
»Auf einen Mann?«
»Warum nicht?«
»Ihren Mann?«
»Nein.«
»Also warten Sie auf irgendeinen Mann?«
Sie gibt ihm keine Antwort, starrt weiter hinaus auf die Bahnsteige.
»Bahnhöfe bedeuten Abschied und Trennung, manchmal auch Wiedersehen, aber ein Wiedersehen, bei dem man den Abschied bereits ahnt. Bahnhöfe stimmen einfach traurig«, nimmt sie das Gespräch nach einer Weile wieder auf.
»Mich nicht, ich genieße das hektische Treiben, die flüchtigen Begegnungen, das vielversprechende Lächeln einer schönen Frau, das man oft erst wahrnimmt, wenn es schon vorbei ist.«
»Ich hasse Bahnhöfe, diese unerträgliche Geräuschkulisse, diesen Schmutz und Gestank, all diese häßlichen, verquollenen Gesichter ... Schauen Sie sich nur diese unausgeschlafenen Visagen im Spiegel hinter der Theke an.«
Schmunzelnd erwidert er: »Ich fühle mich unter all diesen fremden, häßlichen Gesichtern wie zu Hause, und ich mag auch den Lärm, bei dem man kaum sein eigenes Wort versteht.«
Verärgert über sich selbst, blickt sie zu Boden und spielt nervös mit ihren Ringen. Normalerweise bringt sie die Leute zum Reden. Sie ist eine ausgezeichnete Zuhörerin. Aber dieser kaputte Typ schafft es, den Spieß umzukehren. Sie verrät viel zu viel von sich selbst und erfährt fast nichts über ihn.
Als würde er ihre Gedanken erraten, beugt er sich zu ihr hinüber und fährt fort: »Ich beobachte gern die Leute, die ankommen oder abreisen. Man fühlt sich nie allein oder gar einsam auf einem Bahnhof. Obwohl ich selbst nie verreise, ich besitze nicht einmal einen Paß ...«
»Sie verreisen nie?« unterbricht sie ihn verblüfft. »Wie eigenartig! Ich reise sehr gern. Allein die Gewißheit, daß ich reisen könnte, wenn ich wollte, ist wichtig für mich.«
»Ich halte nichts vom Reisen. Alle Orte sind mehr oder minder gleich. Ich bereise sie nicht einmal in meiner Phantasie. Reisen ist nichts anderes als eine Flucht vor sich selbst. Von einem Ort zum anderen rasen und doch nicht aus sich herauskönnen. Reisende versuchen nur, ihrer inneren Leere zu entfliehen und einen unsinnigen Lebenssinn zu finden, oder sie flüchten vor der Zivilisation, die sie dann überall einholt. Nach einigen Wochen oder Monaten drängt es sie ohnehin wieder nach Hause.«
»Vielleicht macht es einem das Reisen leichter, sein Zuhause zu akzeptieren.«
»Ich akzeptiere mein Zuhause ohnehin. Abenteuer gibt es auch hier, an dem Ort, an dem man lebt.«
»Ich suche nicht das Abenteuer, sondern nur die Abwechslung. Ich brauche öfters einen Szenenwechsel. Eine Reise unterbricht den langweiligen, alltäglichen Trott. Reisen bedeutet für mich vergessen, den Erinnerungen entfliehen«, sagt sie, beinahe trotzig, und erwidert sein jungenhaftes Lächeln mit einem finsteren Blick.
»Sie scheinen immun gegen mein Lächeln. Sie sind sehr vorsichtig, wollen erst abwarten, was ich außer diesem Lächeln noch zu bieten habe. Das ist Ihr gutes Recht.«
»Recht«, wiederholt sie heftig, »was ist das? Es gibt kein Recht.«
Er erschrickt und bemerkt vorsichtig, beinahe schüchtern: »Das Recht nein zu sagen,
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