Triestiner Morgen
eine letzte Zigarette im Bahnhofscafé.
Er wirft einen Blick durch die große Fensterfront.
Die Kassiererin kommt nicht dazu, ihren Liebesroman auszulesen, der Barkeeper wischt wieder einmal die ohnehin saubere Theke ab, und am Tisch an der Wand sitzt immer noch das ungleiche Pärchen.
Enrico, der sich neben ihrem Tisch an die Theke lehnt, kann ihrer leisen Unterhaltung nicht folgen. Aber er hat vorhin schon genug mitbekommen. Solche Geschichten hat er sich in den letzten zwanzig Jahren wieder und wieder ausgemalt, und er glaubt auch zu wissen, wie und wo sie enden.
Am Nachbartisch spielen zwei ältere Damen Karten. Sie sprechen kaum miteinander, aber nach den unverständlichen Lauten zu schließen, die sie hin und wieder von sich geben, handelt es sich um zwei Ungarinnen.
Sie schenken ihm keinerlei Beachtung. Mit fanatischen Mienen, total auf die Karten konzentriert, spielen sie ihre Trümpfe aus.
Die eine hat, obwohl die Sechzig bestimmt längst überschritten, ein fast faltenfreies Gesicht. Die Narben geschickt versteckt hinter weißblonden Kringellöckchen, die Brauen zu schmalen Strichen gezupft, die dünnen Lippen in kräftigem Rosa – aus der Ferne könnte man sie fast für ein junges Mädchen halten. Die andere ist ebenfalls blond gefärbt, aber ungeschminkt. Ihr winziger Kopf thront auf einem mächtigen, birnenförmigen Körper.
Amüsiert beobachtet Enrico eine Weile diese beiden gespenstischen Figuren.
Der verspätete Schnellzug nach Venedig und der Regionalzug nach Udine sind gerade eingefahren. Das Lokal leert sich.
Enrico trinkt seinen Espresso aus und verläßt ebenfalls das Bahnhofscafé. Er bringt seinen Koffer in die Gepäckaufbewahrung und kauft sich eine Fahrkarte für den Bus.
Die Nummer 6 hält gegenüber dem Bahnhof, beim Ausgang Viale Miramare, nur ein paar Meter von seiner früheren Wohnung entfernt.
Er nimmt ganz hinten in der letzten Reihe Platz. Heute ist der wochentags mit Arbeitern überfüllte Bus fast leer.
Bestimmt fährt auch Michele immer mit diesem Bus in die Innenstadt hinunter, ein Auto besitzt der arme Spinner sicher nicht.
Lächelnd schlägt Enrico sein schwarzes Notizbuch auf und liest die Anschrift des letzten noch lebenden Liebhabers seiner ehemaligen Freundin: »Psychiatrisches Krankenhaus San Giovanni.«
In San Giovanni wächst die Stadt in den Karst hinein. Die Häuser ziehen sich weit vom Meer zurück, klammern sich an die steilen Hänge, klettern beinahe daran hoch.
Enrico ist überzeugt, daß auch heute noch viele Slowenen hier oben wohnen. Eine Schar ärmlich gekleideter Kinder spielt mitten auf der Straße Fußball. Der Busfahrer vertreibt sie mit lautem Hupen. Ein kleiner Junge zeigt ihm die geballte Faust.
Ein Flüchtlingskind? Kein Triestiner Junge würde sich das trauen. Bestimmt haben fast alle der alteingesessenen slowenischen Familien einen oder gleich mehrere Verwandte bei sich aufgenommen, denkt er und winkt dem Kleinen lächelnd zu.
Obwohl erst in den letzten Jahren errichtet, sehen die vielen Neubauten ziemlich verkommen aus. Die Erdhaufen vor den Gebäuden sind nicht einmal mit Gras bewachsen.
Früher war es hier viel hübscher. Die niedrigen, mit wildem Wein und Efeu bewachsenen Vorstadthäuschen, die kleinen, gepflegten Gemüsegärten und die vielen gemütlichen Bars und volkstümlichen Restaurants strahlten eine dörfliche Atmosphäre aus. Heute verschwinden sie beinahe zwischen all diesen häßlichen Wohnsilos.
Wie sehr hatten Gina und er das deftige Essen in den kleinen Lokalen hier oben geliebt. Und in den langweiligen Bürostunden hatte er oft von so einem kleinen Häuschen für sich und Gina geträumt.
Enrico steigt an der Haltestelle unterhalb des Psychiatriegeländes aus und versucht sich erst einmal zu orientieren.
Hohe, zum Teil mit verrostetem Stacheldraht überzogene Mauern grenzen das riesige Areal der psychiatrischen Klinik ein. Sie erwecken unangenehme Erinnerungen an San Stefano.
Er entscheidet sich für den asphaltierten Weg, der in Serpentinen den Berg hinaufführt, vorbei an einsturzgefährdeten Pavillons im Stil der Jahrhundertwende. Warum ihm beim Anblick der sehr südländisch wirkenden Architektur ausgerechnet Pompej einfällt, weiß er nicht.
Verblaßte Gemälde – entweder von Kinderhand oder von anonymen, naiven Künstlern –, zieren einen kleinen Platz vor einem verlassenen Pavillon. Enrico glaubt, ein Polizeiauto zu erkennen oder sollte es vielleicht eine Ambulanz darstellen? »Sonne, Meer,
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