Triestiner Morgen
Freiheit«, liest er auf den Mauern eines anderen leerstehenden Gebäudes. Und auf der Kirchentür steht: »Gott ist tot, es lebe Jesus Christus!«
Vor einem kleineren, noch relativ gut erhaltenen Pavillon, auf dessen Mauern in kindlicher Schrift mehrmals das Wort ›Kindergarten‹ steht, bewegt sich eine verrostete Schaukel einsam im Wind. Das quietschende Geräusch geht Enrico auf die Nerven.
Er verläßt den asphaltierten Weg und steigt zwischen alten Kastanienbäumen und nicht mehr genützten Anlagen, die von außen beinahe idyllisch wirken, weiter den Hang hinauf. Verfaultes Laub raschelt unter seinen Füßen, und der eisige Wind kriecht unter seine Kleider.
Die meisten Pavillons sind dem Verfall preisgegeben. Wucherndes Unkraut und widerspenstiges Gestrüpp versperren ihm den Zugang zu den Gebäuden.
Die Fenster eines Pavillons, der anscheinend notdürftig renoviert worden ist, sind vergittert – wie die Fenster der Zellen in San Stefano. Die Terrasse ist mit verfaultem Laub bedeckt. Die Eingangstür steht sperrangelweit offen.
Enrico geht hinein.
Ein langer, finsterer Gang. Zwei Frauen eilen ruhelos auf und ab. Frauen ohne Alter, mit glänzenden Wangen, stumpfen Blicken, zerzaustem Haar und hängenden Schultern. Sie scheinen Enrico nicht wahrzunehmen, gehen an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die beiden erinnern ihn an wilde Tiere, eingesperrt in einem Käfig.
Die eine Frau spricht mit sich selbst, murmelt ständig unverständliche Worte vor sich hin. Die andere stößt plötzlich einen kleinen, spitzen Schrei aus und stürzt sich auf Enrico.
Er versucht, sich aus ihrer heftigen Umarmung zu befreien, ohne ihr weh zu tun. Aber ihre langen, dünnen Arme schlingen sich um seinen Hals wie die glitschigen Fänge einer Krake. Enrico versetzt ihr einen unsanften Stoß und rennt weg. Erst als die Tür hinter ihm zufällt, atmet er erleichtert auf.
Ein offenes Gittertor beim nächsten Pavillon, dahinter zwei ältere Männer auf wackeligen Camping-stühlen. Rhythmisch scharren sie mit den Füßen und starren dabei teilnahmslos auf den Boden. Der eine Mann schaut auf, als sich Enrico nähert, scheint aber durch ihn hindurchzusehen. Er hat den gleichen leeren Blick wie die Frauen im Gang.
Auch auf einer verrosteten Eisenbank vor dem ehemaligen Theater sitzt ein alter Mann. Er winkt Enrico zu sich.
Der sieht eigentlich völlig normal aus, denkt Enrico, geht zu ihm hin und fragt: »Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?«
Der Alte nickt und steckt sich eine filterlose Zigarette in den zahnlosen Mund.
»Kennen Sie sich hier aus?«
Der alte Mann nickt wieder.
»Gibt es nur mehr diese paar armen Irren in Triest?« Er deutet auf die beiden hinter dem offenen Gittertor.
»Wir haben noch zwanzig bis dreißig Leute hier. Sie haben keine Familien mehr und wollen nicht mehr nach draußen. Aber sie können jederzeit kommen und gehen.«
Er steht auf und streckt Enrico die Hand hin. »Doktor Basaglia. Sie dürfen aber ruhig Franco zu mir sagen. Wir sind hier alle per Du.«
Enrico schüttelt ihm die Hand und stellt sich auch vor, lehnt jedoch die mörderische Gitane, die ihm der Doktor anbietet, dankend ab.
»Ich suche einen Michele Più. Kennen Sie ihn zufällig?«
»Einen Michele kenne ich schon, doch der lebt schon lange nicht mehr hier. Sie meinen den Schizo? Ein netter Junge, immer freundlich und hilfsbereit, außer wenn er gerade einen seiner Schübe hat, dann ...«
Enrico, der sich nicht für Micheles Krankheitsverlauf interessiert, unterbricht ihn rasch: »Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
»Wahrscheinlich im USL .«
» USL ?«
»Ja, unten am Meer. Die Jungen sind alle in die Ambulanzen abgewandert. Nur ein paar von den Alten sind hier geblieben. Können Sie sich nicht mehr an ›Marco Cavallo‹ erinnern?«
Enrico befürchtet, daß der nette Doktor doch ein bißchen spinnt. Dann fällt ihm ein, daß er damals, vor seinem Prozeß, etwas über die Psychiatrie-Reform gehört hat. Aber alles, was vor der Ermordung seiner geliebten Gina passiert ist, erscheint ihm heute unwichtig und nicht der Erinnerung wert.
Er ist müde und beschließt, sich kurz auszuruhen. Der alte Herr mit dem schulterlangen, grauen Haar und den warmen, braunen Augen erinnert ihn an seinen Vater. Dieser würde jetzt ungefähr im gleichen Alter sein, also knapp an die Achtzig. Der Doktor ist genauso groß, wirkt ebenso ungelenk und trägt sogar die gleichen abgetretenen Clarkboots, die sein Vater, jahrein, jahraus angehabt
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