Triestiner Morgen
hat.
Enrico läßt den Doktor erzählen, hört ihm aber nur mit halbem Ohr zu.
»Sie haben noch nie was von ›Marco Cavallo‹ gehört und von Dottore Basaglia wohl auch nicht? Kommen Sie vom Mond?«
Enrico antwortet nicht.
»Leider ist er viel zu früh abgekratzt, der echte Basaglia, meine ich. Ich heiße eigentlich gar nicht Franco und bin auch kein richtiger Doktor. Aber nach seinem Tod haben sie mir diesen Namen gegeben. Ich empfinde es heute noch als eine große Ehre und auch als eine Verpflichtung. Meinen richtigen Namen habe ich längst vergessen.« Er wirft seinen Zigarettenstummel auf den Boden, dämpft ihn bedächtig aus, bevor er in einem seltsamen monotonen Singsang weiterspricht: »Wir haben von den alten Griechen gelernt, haben die Mauern durchbrochen und mit unserem trojanischen Pferd die ganze Stadt erobert. San Vito ist gefallen, San Giovanni ist kaputt ...«
Der ›falsche‹ Franco schließt die Augen und lächelt versonnen bei der Erinnerung an dieses Spektakel.
»Wir waren alle Künstler und wir haben sogar unser eigenes Radio gehabt. ›Radio Fragul‹ – davon müssen Sie doch was gehört haben?« Er schenkt dem schweigsamen Enrico wieder ein zahnloses Grinsen, bevor er fortfährt: »Im Café haben wir uns immer alle getroffen, Patienten, Ärzte, Besucher und Künstler und manchmal haben wir sogar die Rollen getauscht. Wir haben eine neue Psychiatrie erfunden, eine Psychiatrie ohne Gitter, ohne Zwang, ohne jede Gewalt. Die alte Psychiatrie hat die schlimmsten und schwärzesten Schattenseiten der Menschen zum Blühen gebracht. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen ... Bestimmt haben Sie von der elenden und brutalen Realität eines Irrenhauses keine Ahnung.«
Enrico setzt an zu widersprechen, überlegt es sich dann aber anders. Er will den Alten nicht mit Knastgeschichten verängstigen.
»Der Professore war unser Anführer, er war ein echter Revolutionär, genauso mutig und tapfer wie Che Guevara. Er hat uns befreit und die schlimmen Wärter alle erschießen lassen.«
Enrico runzelt die Stirn.
»Nein, das war natürlich nur ein Scherz«, beruhigt in der Alte. »Nette, junge Therapeuten haben ihren Platz eingenommen, aber die lassen uns in Frieden, helfen uns nur, wenn wir Hilfe brauchen. Kein Gitterbett mehr, keine Zwangsjacke, kein Niederspritzen. Auch unsere Leute sind seither viel weniger aggressiv. Die Freiheit ist halt die beste Therapie.«
Mit wachsendem Staunen lauscht Enrico der monotonen Stimme des alten Mannes. Er spricht immer schneller und schneller und seine Sätze klingen fast wie auswendig gelernt. »Anfangs haben wir Angst gehabt vor draußen und die Klinik nur selten und nur in Gruppen verlassen. Aber bald haben wir bei einer Kooperative Arbeit bekommen, und viele von uns haben sogar einen Platz in einer Wohngemeinschaft gefunden. Patienten, denen es schlecht gegangen ist, haben weiterhin hier leben können. Nach und nach sind dann immer mehr Abteilungen zugesperrt worden. Im Zentrum von Triest, in Barcola, Aurisina und in Muggia sind Ambulanzen errichtet worden. Jedes Zentrum hat ein paar Betten, unsere Leute können also auch dort schlafen, aber nur wenn sie möchten. Und, was vor allem wichtig für ihr Selbstwertgefühl ist, sie sind keine Patienten mehr, sie heißen heute Benützer.«
»Und in welchem dieser Häuser lebt Michele jetzt?« gelingt es Enrico endlich, den Wortschwall des Alten zu unterbrechen. Er friert und wundert sich, wie Franco, der nur mit einem dünnen Regenmantel bekleidet ist, es so lange auf dieser kalten Bank aushält. Vielleicht spürt er die Kälte nicht mehr?
»In Barcola, in der Unione Sanitaria Locale servizio di salute mentale, viale Miramare ...«
»Na, dann werde ich mich am besten gleich auf den Weg machen. Ich möchte ihn gern wiedersehen, war lange nicht in dieser Gegend.«
Er verabschiedet sich freundlich von Franco, der seinen abrupten Aufbruch mit einem traurigen Blick quittiert.
Enrico nimmt eine angebrochene Zigarettenschachtel aus seiner Manteltasche und schenkt sie ihm. Im Hosensack hat er noch ein volles Päckchen und in seinem Koffer befindet sich mindestens eine halbe Stange. Er hat sich, gleich nach seiner Freilassung, am Bahnhof in San Stefano mit Zigaretten eingedeckt.
Der Alte bedankt sich überschwenglich und ruft ihm »Danke, vielen Dank, der Herr« nach, als er bereits mit großen Schritten den Hang hinuntereilt.
Streunende Katzen verfolgen ihn mit hungrigen Blicken. Mühsam bahnt er sich den Weg durch
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