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Triestiner Morgen

Triestiner Morgen

Titel: Triestiner Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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mit vollem Mund, was er in den letzten Jahren getrieben hat.
    »Nach Kosics Tod bin ich in eine Wohngemeinschaft gezogen. Viele Studenten haben damals Patienten von San Giovanni aufgenommen. Aber das ist nicht lange gutgegangen. Die Studenten haben Freundinnen gehabt, und die haben sich vor unsereinem gefürchtet. Anfangs war es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Wir haben ein leerstehendes Gebäude besetzt, haben es aber nach einer Woche wieder räumen müssen.«
    Enrico wird ungeduldig, er hat heute bereits genug über die Psychiatrie-Reform gehört. Aber Michele erzählt mit Begeisterung und sehr weitschweifig und ausführlich. Als er beim trojanischen Pferd angelangt ist, stimmen die anderen plötzlich eine bekannte Melodie an:
    »Zieht, Gedanken, auf goldenen Flügeln
,
    Zieht, Gedanken, ihr dürft nicht verweilen!
    Laßt euch nieder auf sonnigen Hügeln
,
    Dort wo Zions Türme blicken ins Tal!
    Um die Ufer des Jordan zu grüßen
,
    Zu den teuren Gestaden zu eilen
,
    Zur verlorenen Heimat, der süßen
    Zieht, Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual!
    Warum hängst du so stumm an der Weide
,
    Goldne Harfe der göttlichen Seher?
    Spende Trost, süßen Trost uns im Leide
    Und erzähle von glorreicher Zeit!
    Singe, Harfe, in Tönen der Klage
    Von dem Schicksal geschlagner Hebräer
.
    Als Verkünder des Ewgen uns sage:
    Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit ...«
    »Nabucco kann noch ein jeder von uns auswendig«, sagt Michele stolz.
    Enrico schmunzelt und läßt sich schließlich sogar dazu bewegen, mitzubrummen:
    » ... Als Verkünder des Ewgen uns sage:
    Bald wird Juda vom Joch des Tyrannen befreit.«
    Mehr oder weniger beiläufig erkundigt er sich, nachdem die letzten Sänger verstummt sind und sich zu einem verspäteten Mittagsschläfchen in ihre Zimmer zurückgezogen haben, ob sie denn hier völlig allein wären, ohne Pflegepersonal oder Ärzte.
    Lachend erklärt ihm Michele, daß zwar immer jemand vom Betreuungsteam anwesend sein sollte, aber da Ärzte und Pfleger sowieso mit Funktelefonen ausgerüstet wären, beschränkte sich ihre Anwesenheit auf die Vormittagsstunden. »Wenn tagsüber was passiert, rufen wir sie einfach an. Ein Pfleger ist aber normalerweise immer da. Heute hat Carlo Dienst, und der schläft nach dem Essen gern ein paar Stündchen.«
    Enrico ist erstaunt über Micheles Redseligkeit. Früher brachte der Junge kaum den Mund auf. Ein neues Wundermittel? Er wirkt wie aufgezogen, erzählt ihm vom Tod des alten Kosic, von den anderen Verrückten, von all den Büchern, die er in den letzten Jahren verschlungen hat, von seinen Fortschritten im Pingpong ...
    »Ich habe in den letzten Jahren auch viel Tischtennis gespielt«, unterbricht ihn Enrico.
    »Magst du ein Verdauungs-Match spielen? Wir haben unten im Keller einen Tisch.«
    Enrico hält ein Match für eine ausgezeichnete Idee. Sie räumen zusammen das Geschirr weg und gehen dann hinunter.
    Der Keller entpuppt sich als düsteres Loch. Über dem Tischtennistisch baumelt eine nackte Glühbirne. Auch das kleine, vergitterte Fenster weckt bei Enrico unangenehme Erinnerungen.
    Er wählt einen Schläger mit Außennoppen auf der Rückhand und einem glatten Belag auf der Vorhandseite.
    Michele begnügt sich mit einem einfacheren und schon ziemlich abgespielten Exemplar.
    Enrico zieht sein Sakko aus und krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch. Dann schlagen sie sich ein.
    Enrico durchschaut schon bald, daß die Rückhand-Schläge seines Freundes gefährlicher sind als seine langsamen Vorhand-Top-Spins und beschließt, ihn beim Match mit kurzen Bällen auf der Vorhand zu halten.
    Beide sind Angriffsspieler, aber Enrico beherrscht auch recht gut lange, geschnittene Defensivbälle. Gegen den schnellen Michele wird er jedoch, wenn er sich auf reine Verteidigung einläßt, keine Chance haben.
    Beim Stand von 6:4 für Michele sagt dieser plötzlich: »Ich weiß, daß du sie nicht erwürgt hast. Aber ich habe vor Gericht nicht für dich aussagen können, ich war so schlecht beisammen.«
    »Wer hat es dir gesagt?«
    »Ich war selbst dort, hab dich rauskommen sehen. Du hast furchtbar ausgeschaut, bist kreidebleich gewesen, und dein Hemd war mit Blut beschmiert. Ich habe mich hinter den Mülltonnen vorm Haus versteckt. Kaum warst du außer Sichtweite, bin ich hinein. Der Hotelbesitzer ist gerade die Treppe heruntergekommen. Wir sind dann zusammen rauf ins Zimmer, und da ist sie gelegen ... Was nachher passiert ist, weiß ich nicht. Angeblich habe ich mich

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