Triestiner Morgen
gleitet er fast von allein.
Michele gibt unzusammenhängende Laute von sich. Enrico bleibt stehen, beugt sich über ihn und legt sein Ohr an den Mund des Freundes. Er versteht nur ›Casanova‹, ›Sado-Maso-Spiele ...‹, ›Orient‹ und ›Gina‹, und plötzlich muß er an den armen Livio denken. Sind dies nicht auch seine letzten Worte gewesen?
Ein paar Meter weiter steht ein kleines, weißes Haus. Das Büro des Bademeisters? Fenster und Tür sind mit blau gestrichenen Brettern zugenagelt.
Enrico reißt die Bretter von der Tür. Sonnenschirme, Liegestühle und jede Menge Rettungsringe kommen ihm entgegen. Fluchend versucht er ordentliche Stapel zu errichten. Dann bettet er den blutüberströmten Michele auf ein Campingbett und deckt ihn mit einer kaputten Luftmatratze zu. Beinahe liebevoll streicht er dem Freund, der ihn mit seinen blutunterlaufenen Augen vorwurfsvoll anstarrt, über die Wange und flüstert: »Du schaffst es schon, ich laß dich nicht verrecken.«
Die Tür der Hütte, die sich nun nicht mehr schließen läßt, quietscht ebenso laut in den Angeln wie das Tor in San Stefano. Das unangenehme Geräusch noch immer in den Ohren, eilt er im Laufschritt die Uferpromenade entlang, zurück zur Busstation. Es begegnet ihm kein Mensch. Gnädige Finsternis umhüllt den verlassenen Strand. Der Mond hat sich wieder hinter den Wolken versteckt. Doch plötzlich erfassen ihn die Scheinwerfer eines vorbeirasenden Wagens. Der Fahrer scheint ihn mitten im Visier zu haben.
Enrico hält sich die Hand vors Gesicht, wechselt rasch die Straßenseite und sucht Schutz im dichten Gebüsch. Die Terrassenlokale haben dunkle Balken vor den Fenstern, auch in den Häusern am Hang brennt kein Licht.
Seine Wut ist verraucht. Er empfindet nur mehr Mitleid mit dem halbtoten Freund. Dieser hilflose Narr hat seine geliebte Gina sicher nicht auf dem Gewissen. Er hat sowieso nie recht daran geglaubt, daß der Junge es getan haben könnte. Michele ist für ihn immer noch ›der Junge‹, obwohl er jetzt auch schon über vierzig sein müßte. Er war niemals imstande, auch nur einer Fliege etwas zuleide zu tun. Außerdem hat er als einziger auch kein so rechtes Motiv gehabt. Weder kann er sich vorstellen, daß Michele aus Eifersucht gehandelt hat, noch hätte Gina den Jungen erpressen können. Von ihm hat es nichts zu erpressen gegeben.
Enrico gesteht sich ein, den Jungen immer noch zu mögen. Gina und er hatten versucht, ihm die Eltern zu ersetzen. Sie waren seine Familie. Und er schlief mir ihr, weil sie es wollte, so wie ein kleiner Junge mit seiner Mutter schlafen würde, wenn sie es von ihm verlangte. Bestimmt hatte sie ihn verführt und nicht er sie.
Doch Enricos Haß trieb von Jahr zu Jahr prächtigere Blüten. Jedes weitere Jahr hinter den grauen Mauern bestärkte ihn in seinem Entschluß, daß alle dafür bezahlen mußten. Und waren sie nicht auch alle in gewisser Weise für ihren Tod verantwortlich – auch wenn nur einer von ihnen der Mörder sein konnte? Aber es gab eben nicht nur einen Mörder ... Erstaunt stellt er fest, daß sich so etwas Ähnliches wie Gewissen in ihm regt.
Naß bis auf die Haut und mit Micheles Blut auf Hemd und Mantel erreicht er die Busstation. Ihm bleiben noch fünfzehn Minuten, um seinen Mantel zu reinigen und die verdächtigen Flecken von seiner Hose zu entfernen. Bei der schwachen Straßenbeleuchtung kann er nicht erkennen, ob es sich tatsächlich um Blutflecken handelt. Doch sein Taschentuch verfärbt sich rosa, als er seine Knie abwischt.
Fast wünscht er sich, daß jemand den Jungen findet, bevor er verblutet. Er ist nahe daran, die Polizei oder in der Villa anzurufen, anonym selbstverständlich, läßt es aber bleiben. Vorher muß er verschwinden, zumindest Triest erreichen. Und wieder taucht diese verdammte Melodie auf. Sie wird ihn noch tagelang verfolgen:
»Zur verlorenen Heimat, der süßen
Zieht, Gedanken, lindert der Knechtschaft Qual.«
Als der Bus endlich kommt, wünscht er sich nichts mehr, außer einem Glas Terrano und einer letzten Zigarette.
»O Giorgio!« Hocherfreut werfe ich mich in seine Arme.
Der liebe Giorgio sieht gar nicht gut aus, er hat schwarze Ringe unter den Augen, und seine Haut ist fahl und blaß. Der gestrige Abend scheint ihm nicht gut bekommen zu sein.
Aber er macht mir keine Vorwürfe, im Gegenteil, er hat sogar daran gedacht, eine Flasche Rotwein mitzubringen. Allerdings sollte er wissen, daß ich nie Rotwein trinke. Rotwein schadet meinem
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