Triestiner Morgen
angebracht. Angeblich soll es den Genuß erhöhen, wenn man sich selbst dabei zuschauen kann. Na ja, vielleicht muß ich Bruno in diesem Punkt ausnahmsweise recht geben.
Das Tropfen des Wasserhahns macht mich noch verrückt. Ich hasse tropfende Hähne! Auf einem handgeschriebenen Zettel – Brunos Handschrift? – steht, daß man das Leitungswasser nicht trinken soll. Aber ich habe Durst, und Giorgio wird sich sicher wieder weigern, eine Flasche Spumante zu bestellen. Ich fülle also den Zahnputzbecher und genehmige mir einen Schluck. Das lauwarme Wasser schmeckt tatsächlich scheußlich und sieht mehr als verdächtig aus. Weiße Flusen schwimmen in der milchig trüben Flüssigkeit. Sie erinnern mich an etwas anderes, viel besser Schmeckendes. Lachend leere ich mir den Rest des Wassers übers Gesicht. Für einen Augenblick fühle ich mich erfrischt. Doch dieses angenehme Gefühl hält leider nicht lange an.
Wenn dieser Oberspießer von Giorgio nicht bald auftaucht, hau ich wieder ab. Ich habe die Nase voll von ihm, und das werde ich ihm heute auch deutlich zu verstehen geben. Ich habe es wirklich nicht nötig, auf einen Mann zu warten. Männer stehen Schlange bei mir und nicht umgekehrt!
Ich versuche, mich auf das Tropfen des Wasserhahns zu konzentrieren, aber es will mir nicht so recht gelingen. Mein Blick schweift hinüber zu dem großen Ölbild über dem Kopf des Messingbettes. Die Madonna mit dem Kind im Arm. Diesem Bruno ist doch wirklich nichts heilig! Gegenüber, neben dem Spiegel, hängt das Kind noch einmal, dieses Mal am Kreuz.
Mir reicht’s. Ich werde lieber runtergehen und Michele vorm Hotel abpassen, sonst laufen sich die beiden Idioten noch in die Arme.
Als ich gerade zum Schrank gehen will, um mein Kleid wieder vom Bügel zu nehmen, bewegt sich die Türklinke.
Die alte Villa schräg gegenüber der ehemaligen kaiserlich-königlichen Badeanstalt, die zu Eigentumswohnungen mit eigenem Meerzugang umgebaut worden ist, erstrahlt in neuem, sehr feudalen Glanz. Freundliches Lindgrün und sonniges Gelb scheinen heutzutage Modefarben zu sein, denkt Enrico.
Die Gartentür steht offen, und die Haustür ist unversperrt. Er singt in Gedanken ein Loblied auf die offene Psychiatrie.
Im Parterre ist kein Mensch zu sehen. Gelächter im ersten Stock. Zögernd geht er die Treppe hinauf und klopft an eine halboffene Tür.
Eine Art Eßzimmer oder Kantine, eine kleine Theke und zwei große Tische, an denen ein paar Leute sitzen. Als Enrico den Raum betritt, verstummt das Gelächter, sieben Augenpaare starren den Eindringling neugierig an. Ein großer, dunkelhaariger Mann springt plötzlich auf, stürzt sich auf ihn und umarmt ihn so heftig, daß er fast das Gleichgewicht verliert.
»Ist ja schon gut«, stöhnt Enrico, tätschelt dem Freund die Schulter und versucht, sich aus seiner Umklammerung zu befreien.
Michele drückt ihn jedoch noch fester an sich und küßt ihn links und rechts auf die Wangen. »Ich glaube es nicht, ich kann’s einfach nicht glauben.« Seine Augen sind feucht, und seine Küsse schmecken salzig.
»Laß dich doch mal ansehen.« Er hält ihn noch immer fest.
Auch Enrico mustert den Freund mit kritischen Blicken. Die Krankheit scheint seiner Schönheit keinen Abbruch getan zu haben. Michele sieht blendend aus. Vielleicht ist er eine Spur zu dünn für seine Größe, aber sein schwarzes Haar und sein blasser Teint, die großen, blauen Augen, die lange, leicht gebogene Nase und die sensiblen, vollen Lippen bringen bestimmt auch heute noch viele Frauenherzen zum Schmelzen.
Endlich beruhigt sich Michele wieder, läßt den Freund los und fordert ihn auf, Platz zu nehmen. Bereitwillig rücken die anderen zusammen.
Der Tisch ist gedeckt, die meisten sind mit dem Essen schon fertig. Die einfachen, weißen Papiertischtücher sind voller Brotkrümel und Wasserflecken. In der Mitte des Tisches steht ein Stapel schmutziger Teller.
Michele besteht darauf, daß Enrico etwas Warmes zu sich nimmt. Während er Glas und Gedeck für seinen Freund holt, schaut sich Enrico die anderen genauer an. Es gelingt ihm nicht, festzustellen, ob sich ein Arzt oder Pfleger unter ihnen befindet.
Als Michele mit einem Teller Spaghetti und einer Flasche Mineralwasser aus der Küche kommt, sieht er seinen Freund in eine rege Diskussion über das langsame Sterben des Meeres, der Fische und der repressiven Institutionen verwickelt.
Enrico macht sich gierig über die Riesenportion Spaghetti alla sepia her und fragt Michele
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