Triestiner Morgen
in den Magen und verschont auch seine Nieren nicht.
Erst als sich Michele nicht mehr rührt, hält Enrico inne, beugt sich über den Freund und sagt ganz nahe an seinem Mund: »Du hast Glück, du Idiot, es macht keinen Spaß, dich fertigzumachen.«
Michele antwortet nicht. Seine blauen Augen starr auf die Decke gerichtet, gleicht er einem Toten. Aber sein Puls schlägt noch, wenn auch sehr schwach.
Enrico zieht Sakko und Mantel an, setzt seinen Hut wieder auf und legt sich dann Micheles Arme um den Hals und versucht, ihn hochzuziehen. Doch der schlaffe Körper knickt immer wieder ein. Schließlich packt er ihn an den Beinen und schleift ihn hinaus aus dem Kellerloch.
In der Ambulanz herrscht unheimliche Stille. Entweder schlafen noch alle oder sie sind ausgeflogen, denkt Enrico. Der Chor der hebräischen Sklaven geht ihm nicht aus dem Sinn, und während er den halbtoten Freund die Stiegen hinaufzerrt, pfeift er leise die vertraute Melodie:
»Spende Trost, süßen Trost uns im Leide
Und erzähle von glorreicher Zeit!«
Es hat wieder zu nieseln begonnen. Regen und Dämmerung schützen das seltsame Paar vor neugierigen Blicken.
Enrico legt dem Schwerverletzten einen Arm um die Hüfte und umfängt mit der anderen Hand seine Brust. Es sieht aus, als würde er ihn stützen oder als wären sie ein verliebtes Pärchen.
Die Uferpromenade gegenüber der Villa ist menschenleer. Der Nebel hat sich gelichtet, der Mond spiegelt sich auf der glatten Fahrbahn.
Bevor Enrico die Straße überquert, blickt er sich noch einmal um. Etwa hundert Meter weiter glaubt er eine große, schlanke Gestalt, halb versteckt hinter einer Reklametafel, stehen zu sehen. Er kann nicht erkennen, ob es sich um dasselbe Gesicht wie vorhin im Hafen handelt.
Er drückt den fast ohnmächtigen Freund fest an seine Brust, stellt sich mit ihm unter einen Baum und wartet ein paar Minuten. Als er Michele an den Baumstamm lehnt, sackt dieser sofort zusammen und rutscht zu Boden.
Enrico zieht sein Messer aus der Manteltasche, versteckt es hinter seinem Rücken und geht zu der Stelle, wo der oder die Fremde vorhin stand. Die hübsche Blondine auf der Plakatwand scheint sich über ihn lustig zu machen, einfältig grinsend bietet sie ihm eine Tasse Cappuccino an. Seine Augen haben ihm wieder einen Streich gespielt. Weit und breit ist niemand zu sehen.
Die Nässe, die Anstrengung, das Match und all die anderen Aufregungen des Tages haben ihn ausgenüchtert. Er kehrt zu seinem regungslos unter dem Baum liegenden Freund zurück, hebt ihn auf und schleppt ihn hinüber zur Uferpromenade.
Der kleine Park erscheint ihm als Versteck ungeeignet, zu viele Hundebesitzer führen ihre Lieblinge dort spazieren. Und Michele darf keinesfalls vor morgen früh entdeckt werden. Obwohl, der Junge würde ihn bestimmt nicht verraten.
Inzwischen ist es stockfinster geworden. Der Wind peitscht das Wasser auf. Die Wellen schlagen über die kleine Betonmauer.
Enrico zerrt den Freund bis zur Bar, die nur in den Sommermonaten geöffnet hat. Er rüttelt an der Tür, doch das rostige Vorhängeschloß gibt nicht nach. Die schwarzen Plastikstühle auf der überdachten Terrasse klappern gespenstisch im Wind. Er stolpert über einen umgekippten Stuhl, flucht herzhaft, wälzt den halbtoten Michele die Stiegen hinunter und läßt ihn auf den steinigen Strand fallen. Schwer atmend setzt er sich auf die letzte Stufe und überlegt, ob er ihn einfach unter die Betonpfähle, auf denen die kleine Bar thront, legen soll, möchte aber dann doch nicht riskieren, daß sich die fetten Ratten, die sich dort zwischen den Abfällen tummeln, über ihn hermachen.
Er schleift seinen Freund weiter über den Kieselstrand, den Regen und Salzwasser in ein Schlammbett verwandelt haben. Immer wieder sinkt er knöcheltief ein. Trotz Kälte und Wind gerät er ins Schwitzen.
Ein paar Meter hinter der Bar beginnt der kilometerlange Betonstrand, eine endlose Reihe flacher, häßlicher Bauten, die den Badegästen in den Sommermonaten als Umkleideräume dienen. Grelle, obszöne Zeichnungen und politische Parolen zieren die grauen Wände. Futuristisch anmutende Laternen spenden diffuses Licht.
Vertieft in die Graffitis vergißt Enrico für ein paar Minuten seinen Freund. Erst als Michele ein leises Stöhnen von sich gibt, erinnert er sich wieder an ihn, packt ihn an den Füßen und zieht ihn weiter hinter sich her. Der Körper des Freundes erscheint ihm leichter geworden zu sein. Auf dem feuchten, rutschigen Beton
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