Triestiner Morgen
nicht nur die Wasserhähne, sondern auch die dreimal verlegten und mehrmals zusammengeflickten Rohre vor sich hin. Das Wasser, das ihr über die Hände rinnt, ist rot und braun vom Rost.
Sie öffnet den Koffer, will ihre Kosmetiksachen rausnehmen. »Scheiße!«
Es ist nicht ihr Koffer.
Neugierig stöbert sie in den fremden Sachen herum. Den beiden Filmrollen schenkt sie nur einen flüchtigen Blick. Auf dem Boden des Koffers entdeckt sie, eingewickelt in ein weißes Hemd, vergilbte Zeitungsausschnitte über einen Mordprozeß. Vor allem das Foto des verurteilten Mörders erweckt ihr Interesse. Sie sieht sich das Bild genauer an und erkennt in dem jungen Mann mit den traurigen Augen den älteren Herrn aus dem Café. Eher amüsiert als schockiert, vertieft sie sich in die Artikel.
Sie wollte schon immer einmal einen Mörder persönlich kennenlernen. Hoffentlich wird er, wenn er den Irrtum mit den Koffern bemerkt, zurückkommen. Vielleicht sind die vielen Stunden in diesem verrauchten Bahnhofscafé doch nicht ganz vergeudet gewesen? Zumindest besteht eine gewisse Chance, daß sie, völlig überraschend, zu einer rührenden Story kommt.
›Porträt eines Mörders‹ – was für ein reizvoller Titel!
Eine en-face- und eine Profilaufnahme vor neutralem, weißen Hintergrund – richtige Verbrecherfotos also? Oder soll ich ihn als netten, älteren Herrn von nebenan präsentieren? Er sieht so harmlos aus, kaum zu glauben, daß er eine Frau grausam mißhandelt und erdrosselt hat.
Es ist ihr bewußt, daß sich ehemalige Häftlinge nicht gern fotografieren lassen. Sie wird sich schon eine besonders gute Geschichte einfallen lassen müssen, um zu einem originellen Schnappschuß zu kommen.
Sie überlegt, ob sich in ihrem Koffer irgendwelche Sachen befinden, die ihre Identität verraten könnten. Ausweise und Kreditkarten trägt sie normalerweise bei sich. Sie sieht sofort in ihrer Handtasche nach. Beruhigt schließt sie die Tasche wieder.
Als sie von den Waschräumen zurückkommt, entdeckt sie Enrico am Nebentisch. Sogleich versucht sie, sich von ihrem Tischnachbarn zu verabschieden. Aber ihn loszuwerden ist schwieriger, als sie gedacht hat. Schließlich verliert sie die Geduld mit ihm, nimmt ihre Sachen und läßt ihn einfach sitzen.
Bevor sie Enrico anspricht, mustert sie ihn mitleidig. Ein armer Kerl, aber nicht unattraktiv. Sich mit ihm zu unterhalten würde jedenfalls ein ungefährliches Vergnügen sein.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich fürchte, wir haben vorhin unsere Koffer vertauscht.«
Er blickt sie erstaunt an und greift erst nach einer Weile nach seinem kleinen, braunen Koffer, stellt ihn unter den Tisch und bedankt sich höflich.
»Ich wollte gerade was aus meinem Koffer nehmen, da habe ich bemerkt, daß es nicht meiner ist. Rasierzeug pflege ich nicht mit mir herumzuschleppen.«
Enrico geht auf ihren kleinen Scherz nicht ein, weicht sogar ihrem Blick aus, als er sagt: »Ich habe gedacht, ich hätte ihn abgesperrt.«
»Nein, er war unversperrt. Aber ich habe nichts geklaut, Sie können sich ja davon überzeugen.« Sie merkt selbst, wie dumm und überflüssig ihre Bemerkungen sind, aber sie hat nun einmal beschlossen, diese peinliche Geschichte scherzhaft anzugehen.
»Ich besitze nichts, was sich zu stehlen lohnen würde.«
Enrico greift unter den Tisch und öffnet den Koffer. »Sie verzeihen, ich will nur schauen, ob das Schloß kaputt ist.«
Das Geräusch der einschnappenden Schlösser behagt ihr nicht, läßt sie sogar zusammenfahren. Ihr ist nicht recht wohl zumute. Die ganze Situation ist doch peinlicher, als sie gedacht hat.
Der Mann mit den weißen Haaren verläßt das Bahnhofscafé. Sie scheint seinen Abgang nicht zu bemerken, doch Enrico schaut ihm nach, bis er hinter dem Zeitungskiosk verschwindet. Dann reicht er ihr den anderen kleinen, braunen Koffer und sagt: »So, jetzt hat alles wieder seine Ordnung.«
Sie nimmt eine Zigarette aus ihrem silbernen Etui.
Enrico gibt ihr Feuer, holt aus der Jackentasche seines Anzugs ein angebrochenes Päckchen und steckt sich auch eine Zigarette in den Mund, zündet sie aber nicht an.
»Ich versuche gerade, mir das Rauchen abzugewöhnen.«
»Es stört sie doch nicht, wenn ich rauche?«
»Nein, nein, im Gegenteil, ich mag den beißenden Zigarettenrauch.«
Nach ein paar hastigen Zügen dämpft sie ihre Zigarette wieder aus. »Eigentlich schmeckt es mir gar nicht.«
»Das kann ich von mir leider nicht behaupten.«
Er bestellt einen doppelten
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