Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
jene Wörter, die Gedanken und Nebengedanken transportieren, die heftiger anrühren als die reine Information, Sprache eben, die den Zuhörer klüger macht und beschwingt. Inhalt und Form, eines so wichtig wie das andere. Nataniel hat alles verstanden.
Beim Abschied schreibe ich ihm einen Satz von Akhil Kumar auf, einem berühmten Boxer im Land. Damit der talentierte Anfänger nicht wieder strauchelt und sich von seinen Bedenklichkeiten einholen lässt: »Träume werden nicht wahr, wenn du schläfst. Träume sind das, was dich nicht schlafen lässt.«
Zwanzig Kilometer vor dem Ziel steigt ein Mann zu, der den jetzt freien Platz einnimmt. Und da er Bengale ist – die wortmächtigsten Inder sind die kleinsten und sprachverliebtesten – kann er nur zehn Sekunden den Mund halten. Dann sprudelt er, muss er sprudeln. Er stellt sich als Philosophie-Professor vor und sagt vor jedem neuen Absatz den kühnen Satz: »Let me tell you the truth.« Wenn es denn die Wahrheit ist, die er zu erzählen hat, dann sind es Heldenwahrheiten: Jeden Tag, ja, jeden Tag, fährt Ronny in die große Stadt und klopft an Villentüren, um seine Dienste als Hauslehrer anzubieten. Für die Kinder der Wohlhabenden. Mit zwölf musste der heute 60-Jährige die Schule verlassen, da er Waise wurde. Unfalltod seiner Eltern. Er hatte keinen Schulabschluss, keinen Beruf, dafür einen kompromisslosen Willen und bald eine Frau und zwei Kinder. Und lernte drei Fremdsprachen, Hindi, Englisch und Französisch. Die beiden europäischen Sprachen – nur die kann ich nachprüfen – spricht er beinahe fließend. Ein, zwei Stunden verbringt er täglich in der Stadtbibliothek, er will sein »Weltwissen« erweitern. Schließlich sei er Philosoph.
An manchen Tagen geht keine Tür auf und die vier hungern. Selten. Manchmal gehen zwei auf und er kann ein paar Rupien sparen. Ronny redet ohne den Balsam des Schwergeschlagenen. Seine Worte rattern, gewitzt, schnell, kein Gramm Ergriffenheit klebt an ihnen. Seine Ehe ist gut, seit über vier Jahrzehnten geht das Paar unbeschwert miteinander um. So Ronny. Und – als solle der Hinweis die Glaubwürdigkeit der vorhergehenden Nachricht noch bestärken: »Seit drei Jahren suche ich keine physische Intimität mehr.« Aus gesundheitlichen Gründen, sagt er. Seine Frau, seine erste und letzte, sei damit ganz einverstanden. Auch das klingt überzeugend.
Liebestolle Rentner in Indien, das wäre die reine Unwahrheit. Ich blicke auf seinen Hemdkragen, auf die Fingernägel, alles sauber. Er hält auf sich, ein untrügliches Zeichen, dass er nicht untergehen will.
Der Mann redet einen Kilometer pro Minute, tatsächlich. Was in keiner Weise aufdringlich wirkt. Er ist ohne Allüre, er will andere, so ist zu vermuten, teilhaben lassen an seiner Philosophie, seiner – ganz wörtlich übersetzt – Liebe zur Weisheit. Bevor er aussteigt, eine Station vor mir, frage ich ihn noch, ob er meditiere. Der Mensch hat etwas Fürsorgliches an sich, so eine lässige Balance. Nein, nie. Ich winke ihm durch das Fenster begeistert nach. Ronny geht nicht, er hüpft eher. Ich bin mir sicher, auch nach hunderttausend Stunden Meditation werde ich nicht so leicht sein wie er. Eben wie einer, der die Erdanziehung überwunden hat. Der schwebt. Der die Leichtigkeit des Seins erträgt, ohne zu glauben, dafür mit einem Unglück bezahlen zu müssen. Vermutlich streckt auch ihn bisweilen ein Jammer nieder. Aber es zieht keine Furchen durch sein Herz, keine »posttraumatische Verbitterung« schwärzt ihm die Aussicht auf die Welt.
In Varanasi steige ich in einem Hotel ab, das mir Nataniel empfohlen hat. Keine Luxushütte und doch der Luxus, vom Zimmerbalkon auf den Garten blicken zu können. Und lesen und rauchen zu dürfen. Und über einen Knopf zu verfügen, der jemanden veranlasst, einen Kaffee zu bringen. Und anschließend die Tür zu verriegeln, still sein und schreiben zu dürfen. Kein Beruf ist so geräuschlos, so unkriegerisch und so gefährlich. Schon Mohammed wütete: »Unter allen Sterblichen hat der Schriftsteller die größte Chance, in die Hölle zu kommen.« Eine solche Makulatur kann nur ein Analphabet verbreiten. Das Gegenteil stimmt. Darf ein Schreiber nicht mehr schreiben, dann landet er in der Hölle. Hier auf Erden. Denn seine Sprache ist sein Vademecum, das er immer bei sich führt. Sein Allheilmittel, immer alarmbereit, um den Zudringlichkeiten der Welt standzuhalten.
Ok, fast allen. Als am Nachmittag des nächsten Tages Musiker und
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