Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
Arbeiter anfangen, die Bühne für die abendliche Hochzeitsfeier aufzubauen, und irgendwann probeweise mit 150 Dezibel losschlagen, hilft keine virtuelle Flucht. Man fragt sich nur, wie etwas lebenslang halten soll, das schon mit einem solchen Elend beginnt. (In Indien gibt es Auszeichnungen für jene, die mit ihrer Soundbox den größten Lärm produzieren können!) Vielleicht haben Inder dort Attrappen, wo bei uns Ohren hängen. Ich flüchte ins Freie. Ich habe tapfer zwei Wochen lang jede Art Getöse über mich ergehen lassen, jetzt muss ein Ort der Ruhe her.
Etwas Seltsames geschieht. Kaum habe ich die ersten zehn Meter auf der Straße zurückgelegt, zoomen die Bettler, die fliegenden Händler und Rikscha-Fahrer auf mich, den Weißen. Das ist sehr normal, seltsam ist, wie anders ich reagiere. Seit gestern Mittag habe ich die Oase nicht mehr verlassen, lebte achtundzwanzig Stunden fern vom indischen Dschungel. Anders formuliert: Lasse ich mich jeden Tag, jede Stunde, auf das Land ein, bin nah, ganz nah, dann wächst mir eine zweite Haut, eine Schwarte, dann bin ich gewappneter, resistenter, bisweilen auch kälter. Der Ansturm ist so kolossal, dass man automatisch das Visier herunterklappt. Nicht jetzt, der Schutzschild ist bereits verschwunden. Ohne Rüstung trete ich gerade an. Nun sticht wieder das Herz, wenn ich sehe, wie diese armen Teufel mir nachradeln und mich bitten, nein, anflehen, doch aufzusteigen. Man gewöhnt sich an alles, so reden jene, die sich an alles gewöhnen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will. Irgendwie klingt der Satz nach Bankrott.
Natürlich herrscht das vertraute Verkehrschaos, auch jetzt, um 17.47 Uhr. Alle durcheinander, jeder für sich. Hupen, schreien, klingeln, die Welt als Gasglocke. Und natürlich passiert nichts. Sie alle meistern das Chaos. Ich habe nie verstanden, wie man auf die Regierung in Neu-Delhi schimpfen kann. Im Gegenteil, man muss sie preisen für die Wundertat, die sie täglich vollbringt: Ein Volk von 1120 Millionen absolut undisziplinierbaren Individuen zu führen. Irgendein Segen, irgendeine Gnade liegt über dem Subkontinent. Nehmen wir das einzige andere Land mit vergleichbarer Einwohnerzahl, China. Und wir haben die kommunistische Knute, einen Ex-Schlächter als Staatschef, öffentliche Hinrichtungen, ein Massenheer von Spitzeln, einen kulturellen Genozid in Tibet. Hoch, hoch, tausend Mal hoch lebe Indien.
Nach ein paar Minuten entdecke ich das Radisson Hotel , Luxus mit Geschmack. Im Café bestelle ich einen Cappuccino und das erste Menschenrecht: allein gelassen zu werden, unerreichbar sein zu dürfen. Keiner zupft an mir, keiner produziert Schuldgefühle. Hier, auf diesem winzigen Erdteil, meinem Ledersessel und dem Tisch, werde ich – wie befremdlich das klingt – ein Unberührbarer. Geld verschafft Diskretion. Geld hat schöne Seiten.
Ich schalte den Macintosh ein, bin noch nicht fertig mit meinem Tagebuch. Plötzlich fällt mir noch ein Grund ein, warum Sprache notieren das schiere Glück auslöst. Nicht bei jedem Satz, aber oft: Schreiben macht bedürfnislos. 26 lautlose Buchstaben reichen. Mehr hat man nicht, mehr braucht man nicht. Bedürfnislosigkeit ist nur ein anderes Wort für Hochgefühl, für tief innen.
Die letzten zwei Stunden lesen. Irgendwann stoße ich in der Hindustan Times auf einen Artikel, den ich besser übersehen hätte. So aufklärend er sein mag. Er berichtet von zwei amerikanischen Forschern, die ihren Testpersonen entweder eine Tasse warmen Kaffees oder einen Becher Eiskaffee in die Hand drückten. Und sie baten, nun per Fragebogen eine Person zu beurteilen. Mit der Folge, dass die »warmen« Probanden die Person wärmer beurteilten, sie für generöser und hilfsbereiter hielten als die »Kalten«, die kälter bewerteten. Als ich nach der Lektüre den Kopf hebe, um über das wundersame Ergebnis des Versuchs nachzudenken, fällt mein Blick auf eine indische Schönheitskönigin, die hier nebenbei als Bedienung arbeitet. Fällt auf ihre Hände, da sie gerade einen nächsten Cappuccino bringt. Ich spüre jäh ein Verlangen nach Nähe, nach Wärme. Auch das weiß ich gewiss, neben dem Glück der Buchstaben gibt es das Glück warmer Frauenhände.
Am dritten Tag checke ich aus, heute muss ich ins »Kloster«. Um Punkt zwölf Uhr treffe ich Malulal, den Rikscha-Fahrer, in Sarnath. Vor dem richtigen Gebäude, am richtigen Tag, zur richtigen Zeit. Wie vor vierzehn Tagen vereinbart. Selbst auf meine Vorurteile kann ich mich nicht
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