Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
fürchterlich. Denn ein Tonband geht los und man hört Satya Narayan Goenka, den Begründer der Zentren, »singen«. Erst später werde ich wissen, dass er in Hindi und Pali Passagen aus dem Dhamma erzählt, der Lehre Buddhas. Dagegen ist nichts einzuwenden, das Fürchterliche aber sind die – für westliche Ohren – fürchterlichen Töne. Schauerlich, wie eine absaufende Kaulquappe, die sich letzte Laute rausquetscht. Zudem verstehe ich keine Silbe. Ab morgen nehme ich meine maßgeschneiderten Ohrstöpsel mit. Unschlagbares Silikon. Als leidgeprüfter Reisender habe ich inzwischen gelernt, mich gegen manch Unbill zu rüsten.
Nach einer knappen Viertelstunde beginnt Goenka zu reden. Und jetzt fließt warmer Honig durch den Raum. Der Mann hat eine wunderbar gütige Stimme. Wäre er Grieche, dann wäre er Sokrates. Überganglos erklärt er nun (auf Englisch) den ersten Teil der Technik, Anapana , Atmung: Die Sitzhaltung kann variieren, nur der Rücken muss gerade sein. Augen geschlossen. Und beim Atmen – einatmen, ausatmen – mit strenger Achtsamkeit auf die »sensations« achten, die man dabei an der Nasenspitze spürt. Das englische Wort führt bei wörtlicher Übersetzung in die Irre. Denn es geht nicht um Sensationen (welche sollten das sein?), sondern um das diametral Entgegengesetzte: um das Bewusstwerden der feinsten Regungen. An der Nasenspitze.
Außenstehende könnte das an eine Beschäftigungstherapie für die Patienten eines Irrenhauses erinnern. In einem abgedunkelten Raum sitzen und die »Sensationen« auf der Nasenspitze beobachten. Und das immer wieder. Ohne Unterbrechung. Der Eindruck ist falsch, im Gegenteil, die Übung verlangt eine hohe geistige Anstrengung. Die Technik ist mir nicht neu und ich weiß – von anderen und durch eigene Erfahrung –, dass man alle drei, vier Sekunden an ihr scheitern kann. Scheitern, indem man die Nasenspitze vergisst, das gleichmäßige Atmen, die Achtsamkeit. Indem man zu »driften« beginnt. Man denkt – und der Neuling denkt das nur die ersten Minuten –, dass es sich um ein Kinderspiel handelt. Bald weiß er – und jetzt weiß er es für immer –, dass eine monumentale Aufgabe ansteht.
Wer die Courage hat, sich auf die Herausforderung einzulassen, BEWUSST zu leben, sprich, nicht ununterbrochen »abwesend« zu sein, nicht ununterbrochen mit seinem Kopf woanders zu sein als mit seinem Körper, der wird zuerst einmal die Büchse der Pandora öffnen. Denn er wird – ist er nur radikal redlich mit sich selbst – mit Schrecken feststellen, dass er nie, sagen wir, fast nie, mit beiden »Teilen« (Körper und Kopf) vorhanden ist. Er lebt »unbewusst«, getrennt, geteilt, halbherzig. Wer diese Wahrheit aushält, der wird sich irgendwann leise zuflüstern, dass er vielleicht drei, vier Minuten von 16 täglichen Wachstunden »ganz« ist, wirklich »da«, mit jeder Fiber, mit seinen Gedanken, seinem Hirn, seinem Gefühl, seinem Leib. Den Rest über tagträumt er, albträumt er, rechnet mit seiner Vergangenheit ab, flieht in die Zukunft, denkt an den gestern verlorenen Hausschlüssel, denkt an die morgen fällige Stromrechnung, denkt an den Sex, den er vorgestern hatte oder gern gehabt hätte, den Abflug seines Flugzeugs in sieben Wochen, das dumme Weib, das ihn letzte Woche auf dem Einwohnermeldeamt in den Wahnsinn trieb, den pomadigen Schönling in seiner Bank, der ihm Ende des letzten Jahrtausends ein miserables Wertpapier verhökerte, denkt an alles, alles schreit durcheinander in seinem Schädel, denn der Halbherzige, die halbe Portion, ist überall, jettet in Gedankengeschwindigkeit in alle vier Himmelsrichtungen, ein Tausendsassa, ein Supertyp, ein geiler Multitasker, ein armes Würstchen. Denn da, wo er sich gerade befindet – da ist er nicht.
Ja, es kommt noch schlimmer. Hat er endlich den ersehnten Sex, denkt er an einen anderen Sex. Den er hätte haben können, wenn er nur, ach, wenn er nur. Oder er denkt an die Fernbedienung – bei den ärmsten Würstchen steht der Fernseher im Schlafzimmer –, die er morgen zur Reparatur bringen muss. Sitzt er endlich nach sieben Wochen im Flugzeug, dann sitzt er nicht auf Platz 23 G, sondern hat sich bereits zum Zielort gebeamt, träumt vom faulen Dasein am Strand und der Brasilienbräune, von der er seit dem letzten Urlaub schon fantasierte. Und ist er dann endlich faul, dann träumt er von zu Hause, wo er von den »Wahnsinnsferien« schwärmen wird – ad infinitum absurdum.
Die nächsten zehn Tage werden
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