Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
und Schandtaten, an weitschweifigsten Ideen und Verirrungen.
Ich döse nicht mehr, ich bin wieder wach. Das Denken bringt meinen Enthusiasmus zurück. Plötzlich wird mir klar, dass keiner der Teilnehmer vorgestellt wurde. Das ist ein intelligenter Trick. Wir wissen nichts voneinander, kennen keinen Beruf, kein Alter, kein Einkommen, keinen Wohnort, keine Lieben und keine Vorlieben, keine Erfolge und kein Misslingen, nichts. Das ist gut, man hat keine einzige Information zum Vergleich, keine Rangordnung kommt auf, keine Schublade wird bedient. Man hat nur den anderen, so wie er da ist, da sitzt, da geht. Sonst nichts.
Ich höre das Pfeifen des Varanasi-Express , die Lokführer lassen es oft pfeifen. So viele Kühe verirren sich auf Indiens Bahngleise. Ich bin stark und widerstehe der Sehnsucht, in den Zug zu fliehen. Mein Kopf und mein Körper bleiben hier. Ungewaschen und ausgestreckt auf einer Bettstatt, die in Kürze den Härtegrad eines Surfbretts erreichen wird, schlafe ich ein.
ERSTER TAG
Um vier Uhr früh läutet die große Glocke. Vier Uhr und keine Minute später. Damit keiner wieder einschläft, geht jemand anschließend mit einer kleinen Klingel an jeder Zellentür vorbei und mahnt schonungslos zum Aufstehen. Wir schlurfen zur Dhamma Hall , nur dunkle Gestalten, kein Wort fällt. Jeder nimmt den ihm gestern zugeteilten Platz ein. Über zehn Stunden Meditation stehen an. Ich frage mich, ob sich jemand in diesem Raum befindet, der – ähnlich spirituell talentlos wie ich – von dem aberwitzigen Wunsch nach Klarheit getrieben wird.
Die Mühsal des Lebens beginnt. Denn in Indien haben sie keine Taschentücher, wohl auch kein Wort dafür. Ich weiß es sofort wieder, als sie anfangen, ihre morgendlich verstopften Nasenhöhlen frei zu pusten. Gibt es keine mondäneren Möglichkeiten, sich einzustimmen? Ich merke von der ersten Sekunde an, dass der Wille zur Menschenliebe – auch die steht auf dem Programm von Vipassana – schon bei der Begegnung mit verrotzten Nasen ins Stocken gerät.
Ich reiße mich zusammen, atme, beobachte das Einatmen, das Ausatmen, registriere nach einer knappen halben Stunde die wutentbrannten Knie, atme weiter, erinnere mich an den Satz, dass der Geist stärker ist als jede Materie. Wäre der Geist nur stark genug, dann würde er sich wie ein Laserstrahl konzentrieren, hätte nie Zeit, sich um lamentierende Knie zu kümmern.
Und doch, das ist kein Merkspruch aus dem Lexikon des Ergriffenen. Als ich vor ein paar Jahren von Paris nach Berlin wanderte, kam wieder ein Tag, an dem meine Fußsohlen in Blut schwammen und ich mich alle zehn Minuten fragte, wie sie in diesem Zustand – nur versorgt mit blutroten Notverbänden – die restlichen neunhundert Kilometer schaffen sollten. Wie ein feuriger Glutstrahl zuckte ihr Schmerz durch meinen Körper. Bis ich plötzlich von einer beschämenden Erinnerung heimgesucht wurde, die so überwältigend war, dass ich erst nach zwei, drei Kilometern wieder aus ihr »auftauchte«, so gefangen war ich von ihr. Und nun wieder die satanischen Wundmale wahrnahm. Die gerade vollständig verschwunden waren.
Diese Erfahrung war der Beweis dafür, dass es den Schmerz in den Füßen nicht gibt, auch nicht in den Hüften, im Rücken, wo auch immer. Er hat nur einen Platz, dort, wo sich das Glück und das Unglück eines Lebens entscheiden: im Kopf, im Hirn. Klar, damals lenkte mich ein Zufall ab, heute kommt mir nichts zu Hilfe. Und natürlich verfüge ich nicht über die geistige Stärke, um diesen Vorgang willentlich herbeizuführen. Von indischen Yogis werden derlei Taten berichtet. Aber ich bin nur Weißer, Europäer, immer aufgewachsen in der Nähe potenter Schmerzmittel.
Zurück zum Atem. Ein Westler sitzt vor mir. Wie eine Statue ruht er, wie ein Gott. Wie gut, wie elegant das aussieht. Und ich sitze hinter ihm, nein, ich turne hinter ihm, verrenke den Körper von einer Position in die nächste, will ihn erlösen von seinen Krämpfen. Und Gott sitzt vor mir und zeigt – immer unbeweglich und geräuschlos –, dass man ganz anders mit dem Leben umgehen kann. Ein Gott und ein Verwirrter befinden sich im selben Raum und haben dieselben Sehnsüchte: Klärung, Tiefe, die Nähe zu anderen. Unergründliches Menschenherz.
Um 6.30 Uhr sind die ersten beiden Stunden vorbei, wieder die Glocke, diesmal ruft sie zum Frühstück. Und jetzt steht dort ein Tonband, damit Goenka nun in der Küche krächzen kann. Aber ich bin inzwischen gewappnet, nur noch als
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