Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
fernes Rauschen dringt das Geträller an meine Trommelfelle. Und das Essen ist gut. Warmer Brei, Reis, eine Mangoschnitte, Kaffee. Die zwei jungen Inder, die unsere Teller füllen, nehmen auch an den Meditationen teil. Man spürt sogleich, dass sie seit langem praktizieren. Sichtbar nicht nur an ihrer Haltung in der Dhamma Hall , die sich während hundertzwanzig Minuten nicht änderte. Unübersehbar auch an der Fürsorge, ja Wärme, die sie ausstrahlen. Ohne jede Attitüde, dafür hilfsbereit, zuvorkommend, achtsam. Das spricht für Vipassana.
Eineinhalb Stunden lang ist »rest time«, man kann auf dem Kiesweg die kleinen Gemüsefelder umkreisen oder sich in sein Zimmer zurückziehen. Immer mit vollkommenem Stillschweigen. Ich lege mich auf die Pritsche und sündige wieder. Schreiben als Erste Hilfe, als Hilferuf, wenn die Welt bedrängt. Logischerweise fällt mir ein Film von Robert Bresson ein, den ich als Kind gesehen habe: »Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen«, mit François Letterier, der ein (gefangenes) Mitglied der Résistance spielt. Und ich sehe ihn, wie er in der Zelle heimlich Notizen macht und blitzschnell – jemand pocht an die Tür – den Bleistiftstummel in einem Loch der Wand versteckt. Das ist die einzige Handlung, die mir im Gedächtnis geblieben ist. Sie hat mich überwältigt. Noch unter Todesgefahr, noch unter der drohenden Hinrichtung, flüchtet einer in die Sprache, die letzte Verbündete.
Die Analogie ist lächerlich, denn mich bedroht kein Floh, ich bin vollkommen freiwillig in diese Zelle gekommen, ich werde hier kostenlos versorgt: mit einem Dach über dem Kopf, mit sauberer Verpflegung, mit einem Wissen, das ich grundsätzlich für grandios halte. Ja, keiner würde mich aufhalten, nicht einmal nach dem Grund fragen, sollte ich das Zentrum verlassen wollen. Und wenn ich mir genau zuhöre, dann bin ich nicht unzufrieden. Ich bin nur gefangen, aber nicht physisch, sondern in meinem Denken. Ich kann, wie so viele, den Wert des Augenblicks nicht erkennen. Ich bin – und das scheint mir ein typischer Defekt der »weißen Rasse« – nicht glücksfähig. Zumindest nicht oft genug. Die Gründe? Viele, einer davon hat wohl mit der jüdisch-christlichen Elendsideologie zu tun, die zweitausend Jahre lang über das Abendland kam. Leben als Jammertal, Lust als Teufelswerk, Glück als Aufstand gegen Gott. Nur der Elende, der Gott sein Elend eingesteht, ist gottgefällig. Weiß jemand in der Bibel von einem Glücklichen, der nicht heimgesucht wurde?
Um acht Uhr zurück in die Dhamma Hall . Der schmale Inder, der neben mir sitzt und bisher mit unverbrüchlicher Ausdauer den Rotz von seinen Nasenlöchern – weit wie Himalaya-Grotten – nach oben beförderte, hat sich inzwischen einen Husten zugelegt. Nach einer halben Stunde wird das ein Keuchhusten. Großzügig bellt er mir eine Millionenladung Bazillen nach der anderen herüber. Nie käme er auf die Idee, sich die Hand vorzuhalten. Zwischenbilanz: Vor mir sitzt ein Meditations-Held, neben mir ein Barbar. Der sich auch nicht bewegt, auch er begabt, trotz der Malaise. Wie in den Boden gegossen sitzt und rotzt und bellt er. Und meditiert. Wie hieß es, was Vipassana nicht ist? »Es ist kein Fluchtweg, um den Zumutungen und Wirrungen des Lebens zu entkommen.«
Ich konzentriere mich, fange bei eins an und versuche, das unglaublich weite Ziel – ZEHN – zu erreichen. Zehn bewusste Atemzüge, zehn Mal zählen, zehn Mal den leichten Hauch an der Nasenspitze bemerken. Ohne Ablenkung. Bewusst atmen heißt ja nichts anderes, als »jetzt« sein, »hier« sein. Nichts ist unmittelbarer, nichts assoziiert man direkter mit »am Leben sein« als den Atem. Im bürgerkriegs-verwüsteten Liberia fragte ich einst Moses, einen 18-Jährigen, ob er glücklich sei. Und der Kleinkriminelle: »Ja natürlich, ich atme.«
Jeder, der diesen Versuch unternimmt, zur »Zehn« zu gelangen, sei gewarnt. Er wird fast nie ohne (Gedanken-)Umwege dort eintreffen. Die können ans andere Ende der Welt führen oder das Räuspern des Hintermannes betreffen. Meditieren anfangen ist wie über ein Seil gehen und beim dritten Schritt runterfallen. Und wieder aufsteigen und von vorn anfangen. Und bei Schritt sieben abstürzen und wieder bei eins beginnen. Und keinem Wutanfall erliegen über die Misserfolge, die im Sekundentakt das Training begleiten, auch keinen Selbstvorwürfen. Nur wieder geduldig die Herausforderung annehmen, wieder aufs Seil, wieder los.
Beharrlichkeit ist ein
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