Trigger - Dorn, W: Trigger
Morgens vom Frühstückstisch aufgestanden, hatte noch »Ich gehe jetzt mal zum …« gesagt und war dann tot zusammengebrochen. Daran konnte sich Harald nicht mehr erinnern. Nicht etwa, weil er einen
Hirnschaden hatte oder, wie sein schlauer Bruder Karl immer sagte, weil er intelligenzgemindert war, sondern weil er erst ein Jahr alt gewesen war, als sein Vater aufstand und für immer zu jenem unbekannten zum ging.
Für Harald war es schlimm gewesen, ohne Vater aufzuwachsen, obwohl sein dreiundzwanzig Jahre älterer Bruder – der Herr Professor Doktor med. Karl Baumann, eine Gabe der frühen Geburt – schon fast so etwas wie ein Vater für ihn gewesen war.
Aber Harald hatte sehr früh gemerkt, dass sich Karl für ihn schämte. Aus seiner Sicht war Harald das schwarze Schaf in der Familie – und das nicht nur, weil Harald gern schwarze Sachen trug.
Ja, Vaters Tod war schlimm für ihn gewesen, aber noch schlimmer war er für seine Mutter gewesen. Nach Harald war dieses plötzliche Alleinsein für sie die zweite Strafe, die ihr der Herr hatte zukommen lassen. Vielleicht, weil sie nicht fromm genug gewesen war.
Harald hingegen wollte immer ganz fromm sein, damit der Herr nicht auch ihn strafte. Deswegen sprach er mit Frau Petrowski nicht über sein Ding da unten, sondern erzählte lieber den geduldigen Bäumen davon und zeigte ihnen, wie man es wieder klein bekam.
Nur einmal hatte er sich jemand anderem anvertraut, wobei er zu seiner Verteidigung dem Herrn gegenüber einbringen konnte, dass nicht er selbst mit dem Thema angefangen hatte. Es war sein Kollege Manfred gewesen. Der nannte sein Ding da unten immer Latte. Harald gefiel dieser Begriff nicht.
»Du musst deine Latte zwischen die Beine eines Mädchens stecken«, hatte ihm Manfred erklärt und ihm ein
Foto in seinem Spind gezeigt, auf dem genau zu sehen war, wie es zwischen den Beinen eines Mädchens aussah. »Manche haben auch Haare da unten, aber ich finde es ohne schöner. Da siehst du besser, wo du ihn reinsteckst. Das gefällt den Mädchen. Es macht ihnen Spaß, und es ist gut für alle beide.«
Harald hatte sich danach eingehender mit diesem Thema beschäftigt. Heimlich, versteht sich. Manche sagten ficken dazu, andere bumsen oder vögeln. Ihm persönlich gefiel der Begriff Liebe machen am besten. Wenn es beiden Spaß machte, dann lachte man – und wenn man lachte, hatte man sich auch lieb.
Er für seinen Teil entschied, dass er das Liebemachen nur mit einem Mädchen tun wollte, das er auch liebhatte. Vor ein paar Tagen hatte er dies den Bäumen erzählt, und als ihre Blätter und Nadeln zustimmend im Wind geraschelt hatten, war er zufrieden gewesen.
Als Harald an diesem heißen Augusttag durch die wohltuende Kühle des Waldes spazierte, war er sehr traurig.
Eigentlich hätte er froh sein müssen, immerhin hatte er drei Wochen Ferien und musste nicht in die Werkstatt, um dort im öligen Gestank der Fräsmaschinen und Schweißgeräte – die Manfred manchmal Scheiß geräte nannte – zu stehen und Löcher in Stahlplatten zu bohren. Aber an diesem Nachmittag konnte er sich nicht einmal über seine Ferien freuen.
Der Grund für seine Traurigkeit war die Unterhaltung zwischen seiner Mutter und seinem Bruder Karl gewesen, der für ein paar Tage mit seiner Frau Annemarie und seiner Tochter Lara zu Besuch gekommen war.
Harald hatte im Wohnzimmer auf der Couch gelegen und in einem Comicheft geblättert – Batman, der immer schwarze Sachen trug, so wie er auch, und der ganz schön cool war, obwohl Harald nicht immer alles kapierte, was da in den Sprechblasen stand -, während Karl und seine Mutter in der Küche miteinander geredet hatten.
Eigentlich hatte Harald sie nicht belauschen, sondern sich lieber in seiner Fantasie durch Gotham City schwingen wollen, um dort Ra’s al Ghul oder dem hundsgemeinen Joker das finstere Handwerk zu legen, aber irgendwann war in diesem Gespräch sein Name gefallen, und Harald hatte die Ohren gespitzt. Nicht, weil er wirklich neugierig gewesen wäre – Neugier war immerhin eine Sünde -, sondern eher instinktiv, so wie ein Hund die Ohren spitzt, wenn man seinen Namen leise ausspricht.
»Ich kann Harald nicht zu mir nehmen«, hatte er Karl sagen hören. »In zwei Monaten kandidiere ich für das Amt des Dekans, und wie mir der Fakultätsrat signalisiert hat, stehen meine Chancen mehr als gut. Wenn sich dort allerdings herumsprechen sollte, dass ich einen … nun ja, du weißt schon, zum Bruder habe, könnte sich
Weitere Kostenlose Bücher