Trinken hilft
wollten ja irgendwie gefüllt werden.150 Seiten durfte der Kunde für den Gegenwert von zwei Flaschen Zweigelt erwarten, auch wenn er vom Genuss der Getränke benebelt bereits über den ersten Seiten hängen blieb. Trinkerliteratur regt ja weniger zum Lesen als zum Trinken an.
Dieses hundertste Buch mit dem Titel Raststätten für die T-Klasse: Trinker on the road , würde es sich ebenso gut verkaufen wie die 99 Vorgängertitel? Ich hoffte es, denn die namenlose Schar der motorisierten Trinker lechzt nach Bestärkung. Auch ich lechzte nach Bestärkung, nach einem entspannten Gefühl der Zufriedenheit. Ich durfte doch stolz sein, oder? Aber irgendetwas trieb mich um. Die magische Zahl Hundert hatte etwas Hypnotisierendes. Die Nullen tauchten vor mir auf als einsame Punkte auf einer unendlichen Geraden, die sich im Nebel der Zeit verlor. Worüber habe ich eigentlich die ganzen Jahre geschrieben? Wo ist meine Botschaft? Was für eine Spur hinterlasse ich beim Leser außer dem lästigen Leergut, das in den Altglascontainer entsorgt werden will? Wo bleibe ich in diesem flüchtigen Destillat, wo mein Genius nach der Bewältigung des Entsorgungsproblems? Bin ich etwa einer dieser nichtssagenden Punkte, eine dieser Nullen …?
Solche Fragen drängten in mir hoch und zwangen mich, über mein Leben nachzudenken. Was für ein Leben? Ich schreibe, genügt das nicht? Auch das Titelwort Raststätten löste eine Unruhe in mir aus, ein diffuses Missbehagen. Rasten , ein Unwort für mich, den Rastlosen, vom Arbeitsteufel Besessenen, der mich seit Jahren durch den Kalender peitschte und meinem Alltag Struktur verlieh. Der Wein, mein täglich Brot auf dem Papier, aber nicht im eigenen Glas, weil ich zum Schreiben einen nüchternen Kopf brauche, der Wein löste einen Riegel hinter meiner Stirn, machte meine Firewall durchlässig für den Ansturm von Stimmen, die mir hämisch zuraunten: Und nun, du Zombie, du Wurm mit deinen Büchern, die kein Mensch zu Ende liest, was passiert jetzt? Das nächste Buch, klar, was sonst? Nummer 101, der Titel wartet schon auf dich, einer von unzähligen noch ungeschriebenen Ratgebern von der Sorte Iran für Trinker : Nicht ohne meine Flasche … oder Wenn Trinker trauern: Tröstliche Tropfen für jeden Tag … Willst du ewig so weitermachen? Dein Leben als Sklave deiner Marktnische vergeuden, den Kalender im Nacken, der Nachfrage immer um einen Schritt voraus? Schön für deinen Steuerberater. Dein pralles Konto und dein Whiskeyführer ermöglichen ihm ein Leben als Bonvivant, während du selbst dich nächtelang mit Espresso wach hältst. Macht dich das glücklich? Bringt es dich zum Lachen?
Es waren hässliche Stimmen. Sie geiferten, sie verfolgten mich bis in den Schlaf und ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Himmel noch mal, fluchte ich am Morgen, ich habe Grund zum Lachen. Hier, meine Trinkerwitze , meine Nummer 48, ist das nichts? Genervt zog ich das Belegexemplar aus dem Regal, schlug es irgendwo auf und las:
An der Hotelrezeption klingelt das Telefon. Bitte, wann macht die Bar auf?, lallt eine Stimme. – Aber mein Herr, es ist zehn Uhr morgens, sagt der Empfangschef und legt kopfschüttelnd auf. Kurz darauf klingelt es erneut, es ist derselbe Anrufer. Wann macht die Bar auf? – In fünf Stunden, vertröstet ihn der Mann an der Rezeption, aber an Ihrer Stelle würde ich da nicht hineingehen. – Was heißt hinein?, kommt es lallend zurück. Ich will hier endlich raus.
Mein Gott, was für ein Blödsinn! Es entlockte mir nicht einmal ein Schmunzeln. Gut, ich hatte mir die Witze nicht selbst ausgedacht, aber gesammelt hatte ich sie und veröffentlicht. Das war nicht zum Lachen, zum Kotzen war das. Wann habe ich wirklich zum letzten Mal gelacht? Das muss gewesen sein … damals … Mann, wann war das noch mal … auf jeden Fall, bevor Lena ausgezogen ist. Vielleicht muss ich einfach unter Leute? Ein paar Kumpels wären kein Nachteil, dachte ich, aber ich hatte keine Kumpels mehr. Ich hatte keine Freizeit, keine Erlebnisse, keine Familie, nicht einmal Sex, nichts. Nur Kohle. Wozu? Vor dem Fenster wirbelten Schneeflocken durch den farblosen Wintertag, mein Leben war farblos geworden. Ich erinnerte mich an frühere Winter, an meine Studentenzeit, an Hüttenabende im verschneiten Gebirge zusammen mit Freunden – was hatten wir gelacht! Unfassbar. Damals besaßen wir zwar nicht mal die Wurst unter der Pelle, aber Spaß hatten wir ohne Ende. Und nun?
Ich griff nach der Tageszeitung, meiner Verbindung
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