Trinken hilft
los?«
»Ich habe Harald getroffen. Weißt schon, der BWL’ler mit der Rechtschreibschwäche, dessen Diplomarbeit ich seinerzeit auf Orthografiefehler durchpflügt habe. Mann, der ist vielleicht alt geworden! Armer Kerl!«
»Warum, was hat er denn?«
»Einen Job. Das hat er.«
»Ja und?«
»Sonst hat er nichts. Keine Zeit, keine Frau, kein Leben jenseits des Büros, nur einen Job und einen Weinkeller.«
»Ach so, er trinkt.«
»Das hilft, behauptet er.«
»Quatsch, das ist doch Selbstbetrug.« Lena ist Sozialpädagogin, Schwerpunkt Resozialisierung von jugendlichen Straftätern. Manchmal hat sie für ein halbes Jahr einen Job, auf Ein-Euro-Basis, versteht sich, denn der Bodensatz der Gesellschaft wirft keinen Gewinn ab. Manchmal arbeitet sie ehrenamtlich in einem Stadtteilprojekt, um etwas Sinnvolles zu tun. Arbeit wäre genug da; wohin sie schaut, blickt sie auf gesellschaftliche Abgründe, die unser Gemeinwohl gefährden. Manchmal bekommen wir uns in die Haare wegen ihrer Ehrenämter.
»Du musst gerade von Selbstbetrug reden«, konterte ich auch diesmal, »du versuchst, die Gesellschaft zu retten, während die Verantwortlichen ihr Geld ins Ausland retten. Indem du hier und dort ein Loch stopfst, hältst du das System der auseinanderklaffenden Schere am Leben. Wenn das nicht Selbstbetrug ist!«
Ich goss auch ihr ein Glas ein. »Na denn mal Prost«, sagte ich, »auf deinen nächsten Ein-Euro-Job.«
Sie hockte sich widerstrebend auf die Stuhlkante und nippte am Wein. Es war nach Mitternacht, aus der Nachbarwohnung dröhnte das Geballer eines Actionfilms zu uns herüber, in der Ferne hallte ein Martinshorn durch die Nacht. Der Wein liebkoste die Zunge, schmeichelte dem Gaumen und schmiegte sich wie ein wärmendes Katzenfell an die Magenwände. »Trinken hilft, gib’s zu.« Ich schwenkte den guten Domina genüsslich im Mund hin und her und lehnte mich mit einem Seufzer des Behagens zurück.
Lena verzog unwirsch das Gesicht. »Du weißt selbst, dass Trinken nur für den Moment hilft, für einen Augenblick des Wohlgefühls. Morgen starrt dir die Welt wieder unverändert ins Gesicht, nur du hast dich dann verändert. Du hast dann Kopfweh. Was soll der Quatsch?«
»Entspannen soll der Quatsch. Aufmuntern soll er uns in unserem labilen Zustand zwischen Resignation und Hoffnung. Wein ist die Sonne des Nordens.«
»Bleib realistisch!«
»Realität, meine Liebe, ist eine Illusion, die durch den Mangel an Alkohol entsteht. Also, zum Wohl!«
Ich stieß mit ihr an, die Gläser klangen, und Lenas Züge wurden weicher.
»Ich weiß nicht …«, wehrte sie sich eher verträumt als entschlossen gegen den Illusionsverlust, »wir sollten doch lieber vernünftig …«
»… vernünftig so weiterwursteln, immer fit, immer bereit für die große Chance, die nie kommt. Wozu? Um gesund zu sterben?«
»Ach sei nicht so … so …«
»Doch, ich bin heute mal unvernünftig. Endlich. Der Mensch hat seit alters her ein Bedürfnis nach Entlastung, denn das Leben ist anstrengend, und der Rausch gibt uns ein Gefühl von Leichtigkeit. Und sei’s nur für einen Augenblick. Unser Lebensgefühl setzt sich aus Augenblicken zusammen, nicht aus erfüllten Fünfjahresplänen. Ein Moment des Glücks bringt uns weiter als ein langer Tag im Dienste der Vernunft.«
Wir waren beide keine geübten Trinker. Schon nach wenigen Schlucken löste der Alkohol meine Zunge, sein Feuer entflammte mich zu einer Suada von Erkenntnissen, die ich über Lena stülpte wie ein Sektenwerber seine Heilsbotschaft. Währenddessen rutschte sie von der Stuhlkante auf das bequeme Küchensofa hinüber und überließ sich, an Polster gekuschelt, der wohligen Wirkung des Weins. Sie nickte versonnen und taute langsam aus der verhärteten Sichtweise ihres vernunftgesteuerten Alltags auf. Es wurde eine bacchantische Nacht. Der Wein hob uns empor zu verwegenen Fantasien, wir fühlten uns stark und beherzt, dem Leben gewachsen, geradezu erleuchtet. Wenn das Nirwana ein Zustand des in sich und in der Welt Geborgenseins ist, dann waren wir dem Nirwana nahe.
Am nächsten Morgen war davon nichts mehr zu spüren. Lena hatte schon recht, so ein Kater ist quälend. Wahrscheinlich verhalte es sich wie mit dem Muskelkater, tröstete ich sie, der suche auch nur den Untrainierten heim. Natürlich bekam Lena den Job nicht. Man sah ihr die durchzechte Nacht an.
»Hör zu«, sagte ich zu ihr, als sie niedergeschlagen von dem Vorstellungsgespräch nach Hause kam, »du brauchst diesen
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