Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Zwanzigkopekenstück in einen Zipfel des Taschentuchs zu knoten, das Ganze vom Dach auf die Straße zu schleudern und zu schauen, was dann passieren würde.
Der zweite Zeichner, welcher die Idee des ersten Zeichners sogleich begriffen hatte, aß seinen Buchweizenbrei auf, schnäuzte sich, leckte sich die Finger ab und beobachtete dann den ersten Zeichner.
Doch die Aufmerksamkeit unserer beiden Zeichner wurde durch etwas von dem Experiment mit dem Taschentuch und dem Zwanzigkopekenstück abgelenkt. Auf dem Dach, wo die beiden Zeichner saßen, ereignete sich nämlich etwas, das unmöglich unbemerkt bleiben konnte.
Ibrahim, der Hausmeister, nagelte einen langen Stock mit einer ausgeblichenen Fahne an den Schornstein. Die Zeichner fragten Ibrahim, was das zu bedeuten habe, worauf Ibrahim antwortete: »Das bedeutet, wir begehen einen Feiertag in der Stadt.« »Was denn für einen Feiertag, Ibrahim?«, fragten die Zeichner.
»Es ist deshalb Feiertag, weil unser allseits geliebter Dichter ein neues Gedicht geschrieben hat!«, sagte Ibrahim.
Und die Zeichner, beschämt ob ihrer Unwissenheit, lösten sich in Luft auf.
Daniil Charms
8. Januar 1935
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Überraschendes Saufgelage
Einmal schlug Antonina Alexejewna ihren Mann mit dem Dienststempel und beschmierte ihm die Stirn mit Stempelfarbe.
Der schwer beleidigte Pjotr Leonidowitsch, Antonina Alexejewnas Mann, schloss sich im Bad ein und ließ niemanden rein. Doch die Bewohner der Kommunalka, die das dringende Bedürfnis hatten, dort hineinzugelangen, wo Pjotr Leonidowitsch saß, beschlossen, die zugesperrte Tür mit Gewalt aufzubrechen.
Als Pjotr Leonidowitsch einsah, dass er keine Chance mehr hatte, kam er aus dem Bad heraus, ging in sein Zimmer und legte sich aufs Bett.
Aber Antonina Alexejewna wollte ihren Mann endgültig erledigen. Sie zerriss Papier in kleine Schnipsel und streute diese über den auf dem Bett liegenden Pjotr Leonidowitsch. Rasend vor Wut stürmte Pjotr Leonidowitsch in den Flur und fing an, die Tapeten abzurupfen.
Da kamen alle Bewohner aus ihren Zimmern gerannt, und als sie sahen, was der arme Teufel Pjotr Leonidowitsch tat, stürzten sie sich auf ihn und zerrissen ihm die Weste. Pjotr Leonidowitsch lief zur Wohnungsgenossenschaft. Unterdessen zog sich Antonina Alexejewna nackt aus und versteckte sich in einer Truhe.
Zehn Minuten später kam Pjotr Leonidowitsch zurück, den Hausverwalter im Schlepptau.
Da die Gattin im Zimmer nicht vorgefunden wurde, beschlossen der Hausverwalter und Pjotr Leonidowitsch, die günstige Gelegenheit zu nutzen und sich einen Kleinen zu genehmigen.
Pjotr Leonidowitsch erklärte sich bereit, das Getränk an der nächsten Ecke zu besorgen.
Als Pjotr Leonidowitsch gegangen war, kletterte Antonina Alexejewna aus der Truhe heraus und präsentierte sich nackt vor dem Hausverwalter.
Vollkommen perplex sprang der Hausverwalter vom Stuhl auf und flitzte zum Fenster, doch als er die üppigen Formen der jungen sechsundzwanzigjährigen Frau gewahrte, war er plötzlich hellauf begeistert.In dem Moment kam Pjotr Leonidowitsch mit einem Liter Wodka zurück.
Als er sah, was sich in seinem Zimmer abspielte, runzelte Pjotr Leonidowitsch die Augenbrauen.
Doch seine Gattin Antonina Alexejewna zeigte ihm den Dienststempel, und Pjotr Leonidowitsch beruhigte sich. Antonina Alexejewna äußerte den Wunsch, an dem Zechgelage teilzunehmen, aber unbedingt nackt und obendrein auf dem Tisch, der für den Imbiss zum Wodka vorgesehen war. Die Männer nahmen auf Stühlen Platz, Antonina Alexejewna setzte sich auf den Tisch, und das Zechgelage begann.
Hygienisch kann man das nicht nennen, wenn eine nackte junge Frau auf dem Tisch sitzt, an dem gegessen wird. Zudem war Antonina Alexejewna eine Frau mit ziemlich fülliger Figur und nicht besonders reinlich, also, es war wirklich das Letzte.
Schon bald jedoch hatten alle einen sitzen und schliefen ein, die Männer auf dem Fußboden, Antonina Alexejewna auf dem Tisch. Und in der Kommunalka trat Ruhe ein.
D. Ch.
22. Januar 1935
Eine Frauensperson rang verzweifelt die Hände und sagte: »Was ich brauche, ist Interesse am Leben, nicht Geld. Ich suche Begeisterung, nicht Wohlstand. Ich brauche keinen Krösus zum Mann, sondern ein Talent, einen Regisseur, einen Mejerhold.«
<1935?>
Wsewolod Mejerhold (1874–1940), russischer Theaterregisseur und Schauspieler, einer der bedeutendsten Vertreter des Avantgarde-Theaters. Im Juni 1939 wurde er im Zuge des
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