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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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Schauspieler seiner Mutter auch noch den einzigen Mantel weg und ließ daraus einen Rock für das Mädchen schneidern. Mit dem Mädchen schließlich vergnügte sich der Künstler, mit seiner Mutter aber nicht, der war er in reiner Liebe zugetan. Doch den Tod der Mutter fürchtete der Schauspieler, den Tod des Mädchens nicht. Als die Mutter starb, weinte der Schauspieler, als das Mädchen sich aus dem Fenster stürzte und ebenfalls starb, weinte der Schauspieler nicht und legte sich eine andere Freundin zu. Demnach wird eine Mutter geschätzt wie ein Unikat, so ähnlich wie eine seltene Briefmarke, die man nicht ersetzen kann.«
    »Scho-scho«, sagte Myschin, auf dem Boden liegend, »ho-ho.« Faol fuhr fort: »Und das nennt sich reine Liebe! Ist so eine Liebe etwas Gutes? Wenn nicht, wie soll man denn dann lieben? Eine Mutter liebte ihr Kind. Dieses Kind war zweieinhalb Jahre alt. Die Mutter trug es immer in einen Park und setzte es in den Sandkasten. Auch andere Mütter trugen ihre Kinder dorthin. Manchmal kamen im Sand bis zu vierzig kleine Kinder zusammen. Einmal drang ein tollwütiger Hund in den Park ein, stürzte sich geradewegs auf die Kinder und fing an, sie zu beißen. Die Mütter rannten schreiend zu ihren Kindern, darunter auch unsere Mutter. Todesmutig stürzte sie sich auf den Hund und riss ihm, wie sie glaubte, ihr Kind aus dem Rachen. Doch dann sah sie, dass das Kind nicht ihres war und warf es dem Hund wieder vor, um ihr eigenes Kind, das gleich daneben lag, vor dem sicheren Tod zu retten. Wer beantwortet mir die Frage: Hat sie eine Sünde begangen oder etwas Gutes getan?«
    »Tü-tü«, sagte Myschin, der sich auf dem Boden herumwälzte.
    Faol fuhr fort: »Sündigt ein Stein? Sündigt ein Baum? Sündigt ein wildes Tier? Oder sündigt nur der Mensch?« »Mjam-mjam«, sagte Myschin, der Faol zuhörte. »Schupschup.«
    Faol fuhr fort: »Wenn nur der Mensch sündigt, heißt das, alle Sünden der Welt stecken im Menschen. Die Sünde dringt nicht von außen in den Menschen ein, sondern kommt nur aus ihm heraus. Sie gleicht der Speise: Der Mensch isst Gutes und scheidet Schlechtes aus. Es gibt auf der Welt nichts Schlechtes, nur das, was durch den Menschen gegangen ist, kann etwas Schlechtes werden.«
    »Umpf«, sagte Myschin und versuchte aufzusehen. Faol fuhr fort: »Nun habe ich über die Liebe gesprochen, über unsere Zustände, die mit dem einen Wort ›Liebe‹ bezeichnet werden. Liegt da ein sprachlicher Fehler vor, oder sind all diese Zustände ein und dasselbe? Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die Liebe eines Sohnes zu seiner Mutter und die Liebe eines Mannes zu einer Frau – ist das womöglich ein und dieselbe Liebe?«
    »Absolut«, sagte Myschin und nickte. Faol sagte: »Ja, ich denke, das Wesen der Liebe verändert sich nicht, je nachdem, wer wen liebt. Jedem Menschen ist eine bestimmte Menge Liebe gegeben. Und jeder Mensch will sie anlegen, ohne dabei seine diversen Schrullen abzulegen. Die Geheimnisse der Permutationen und nichtigen Eigenschaften unserer Seele, die einem Sack Sägemehl gleicht, zu lüften …«
    »Klappe!«, schrie Myschin und sprang auf. »Hinfort!«
    Und Faol zerbröselte wie schlechter Zucker.
     

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Die Abenteuer eines Caterpillars
    Mischurin war ein Caterpillar. Deshalb, vielleicht aber auch nicht deshalb lag er gern unter dem Sofa oder hinter dem Schrank, um mit großem Vergnügen Staub aufzusaugen. Da er kein besonders ordentlicher Mensch war, hatte er manchmal den ganzen Tag die Visage voller Staub, wie mit Pappelflaum verklebt.
    Einmal war er eingeladen, und Mischurin beschloss, sich ein wenig das Gesicht abzuspülen. Er goss warmes Wasser in eine Schüssel, fügte etwas Essig hinzu und tauchte sein Gesicht ins Wasser. Offenbar war zu viel Essig im Wasser, und darum erblindete Mischurin. Bis ins hohe Alter bewegte er sich nur tastend voran, und deshalb, vielleicht aber auch nicht deshalb sah er einem Caterpillar allmählich noch ähnlicher.
     

     
     
     
     
    Alle Menschen lieben das Geld. Sie streicheln es, küssen es, drücken es ans Herz, wickeln es fein säuberlich in schöne Tüchlein und betütteln es wie ein Püppchen. Manche rahmen sich eine Banknote ein, hängen sie an die Wand und verneigen sich davor wie vor einer Ikone. Manche füttern ihr Geld: Sie machen ihm den Schnabel auf und stopfen ihm die fettesten Stücke ihres Essens hinein. Wenn es heiß ist, tragen sie ihr Geld in einen kühlen Keller, und im Winter, bei grimmigem Frost,

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