Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
Vom Netzwerk:
ballert die Ärsche einiger Aliens durchs Weltall.

Halbe Liebe
    Ingeborg ist in Sorge ob ihrer Wirkung auf kleine Kinder. Sie erinnert sich an eine Zeit, als sie ein Kind nur anzulächeln brauchte und es daraufhin zurücklächelte. Irgendwas muss mit ihrem Gesicht passiert sein, der Ausdruck, der ein Kind zum Lächeln animieren kann, ist wohl nicht mehr abrufbar. Die stumpfe Fresse des deprimiert machenden Alters hat sich in ihrem Gesicht manifestiert. Die Sache ist nicht mehr abwaschbar, unkaschierbar liegt sie dort, die brutale Fresse der Vergänglichkeit, und macht aus Ingeborg eine alltägliche Kläglichkeit.
    Ingeborg steht an der Supermarktkasse und vor ihr sitzt ein kleiner, dicker Mensch, der sie mit übergroßen Augen anstarrt. Der kleine, dicke Mensch sitzt in diesem Einkaufswagenkindersitz, entgegen der Fahrtrichtung, während seine Mutter daneben steht und Konsumgüter auf das Laufband legt und ihrem Kind deswegen kurzzeitig keine Beachtung schenken kann. Ingeborg sieht dem Kind direkt in die Augen, stemmt sich ein Lächeln ins Gesicht und erwartet, dass das Kind ebenso reagiert. Schweigen und Starren sind aber seine einzigen Reaktionen. Urplötzlich aber fällt der neutrale Ausdruck des starrenden Schweigens in sich zusammen und das Kind beginnt ein heulendes Plärren. Ingeborg lächelt immer noch, versucht einen beruhigenden, irgendwie besänftigenden Blick hinzukriegen, aber das Kind weint immer heftiger und lauter. »Was ist denn los, Leon?«, verständnisvollt die gestresst wirkende Mutter in das jämmerliche Weinen, dass irgendwie immer lauter und schlimmer wird. Für Ingeborg hat dieses Weinen etwas Panisches in sich, etwas Angstartikulierendes, und beschämt wendet sie den Blick ab und schaut auf das Band, auf das sie nun langsam ihre Waren legen kann. Ist denn mittlerweile wirklich so viel Verbitterung in ihr Gesicht gemeißelt worden, dass sie selbst einem naiven Kind nichts mehr vorspielen kann? Sie legt langsam Äpfel, Milch, Saft, Brot, Tomaten, Aufschnitt und noch ein paar andere Dinge aus ihrem Einkaufswagen auf das Band. Mittlerweile hat die Mutter den kleinen, dicken Leon beruhigt, und er sitzt wieder im Einkaufswagenkindersitz und schaut stumpf in die Gegend. Ingeborg traut sich nun nicht mehr, direkten Blickkontakt aufzubauen. Würde Leon erneut wegen ihr und ihrem Sorgenfaltengesicht zu heulen anfangen, wüsste sie nicht, wie sie das verkraften sollte. Ingeborg schluckt, würde selbst am liebsten los heulen, hier in der Warteschlange an der Supermarktkasse.
    Ingeborg würde aber auch genau so gerne den kleinen, dicken Leon an sich reißen und seine fetten Backen mit ihren faltigen Händen zusammenquetschen und ihm mit letzter Kraft ins Gesicht schreien: »Dafür, dass du Scheißkind mir jetzt den letzten, schwach glimmenden Funken Selbstwertgefühl ausbläst, hab ich dieses Land nicht wieder mit aufgebaut, in dem du jetzt sorgenfrei fett und dumm werden und bleiben kannst.« Leon würde merken, dass sie es ernst meint und sein Geplärre gegen wertschätzendes Lächeln eintauschen. So sind sie doch, die Kinder, neben der abgrundtiefen Trauer wohnt das lustbetonte Lachen, und über allem schwebt die große Scheißegalheit. Über verwelkenden, alten und übel riechenden Menschen wie Ingeborg schweben nur noch große Wolken voller Scheiße, die sich langsam über ihnen und ihrem Leben entleeren.
    Die Reaktion des kleinen Leon zeigt ihr, dass irgendwas nicht stimmt in ihrem Gesicht, dass die weibliche Lieblichkeit, die Ingeborg einst ausmachte, einer Verbitterung gewichen ist, fast einer sich durch ihr Gesicht artikulierenden, verzweifelten Einsamkeit. Ingeborg lebt mit der Einsamkeit eines Menschen, die keine richtige Einsamkeit ist, denn da ist ja jemand bei ihr, wenn sie die Wohnung betritt, aber dieser Jemand, der da bei ihr ist, ist nicht wirklich anwesend. Sein Körper liegt zwar im Schlafzimmer, während sein Kopf eine nicht einsehbare Landschaft bleibt. Der Arzt hat gesagt, er habe ein starkes Herz. Als ob Ingeborg das nicht gewusst hätte. Natürlich hat er ein starkes Herz, sonst wäre sie nicht mit ihm verheiratet.
    Als sie mit schleppendem Gang den Supermarkt verlässt, sieht sie aus dem Augenwinkel das gut riechende, junge Mädchen, das in der Wohnung über ihnen lebt. Ihre Rothaarigkeit stemmt sie in Ingeborgs Wahrnehmung. Sie tänzelt durch den Markt, als sei das ganze Leben für sie voller Angebote und Optionen, die sie nur noch aus den Regalen zu pflücken braucht wie

Weitere Kostenlose Bücher