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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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unendlicher Hilflosigkeit Dinge an, die sein Gehirn einzuordnen versucht, und dann scheitert. Also, Hermann schlürfte die Suppe in der ihm eigenen Langsamkeit und plötzlich ließ er den Löffel fallen und sein Kopf fiel in die Suppe, die nach allen Seiten wegspritzte. Sein Gesicht lag dann im Teller und Ingeborg bewegte sich in der ihr eigenen Schnelligkeit zum Telefon, sie wusste, dass etwas Schlimmes passiert war mit Hermann, er würde doch sonst nicht einfach so in die Suppe fallen. Wer in die Suppe fällt, wird einen triftigen Grund vorweisen können, dachte Ingeborg, und dann kam der Notarzt und sie trugen Hermann auf einer Trage aus dem Haus, die Stockwerke hinab, und er sah aus, als wäre er bereits verstorben, doch das war er nicht. Ingeborg vertraute ihrem Hermann, sie wusste, dass wenn er ginge, er sagen würde, dass er nun ginge, er würde sich nicht einfach so würdelos durch einen Suppenfall hinfort schleichen wie eine feige Ratte.
    Als Ingeborg Hermann im Krankenhaus besuchte, sah er nicht mehr aus wie Hermann. Spucke lief aus seinem halbseitig gelähmten Gesicht, das seinen kompletten Ausdruck verloren hatte. Der Rest von Hermann war gelähmt, dumm, kaputt, verwirrt und irreparabel beschädigt. Seine Hülle wirkte wie irgendwas Liegengelassenes, zu lange Gelagertes oder während des Verschimmelns Vergessenes.
    In einem Gespräch mit einem jungen Arzt mit viel zu eng zusammenstehenden Augen, sagte dieser Arzt ganz klar, dass er nur zum Sterben zurückkäme. Worte wie Ohrfeigen. Die Wahrheit sickerte wie zähe Flüssigkeit in Ingeborgs Innenleben. Das sollte sie ganz klar wissen, und der junge Mediziner fügte hinzu, dass da eine Lawine von Pflegetätigkeiten auf Ingeborg zurollen würde. Er fragte sie mit dem Blick, gemischt aus Gebrauchtwagenhändler und Hollywoodfilmstar, ob sie sich das denn zutrauen würde. Auf seinem Tisch lagen Prospekte von privaten Seniorenheimen, auf die er seine Hand gestützt hatte, das erkannte Ingeborg sehr genau. Irgendwelche Hochglanzfotos strahlender Residenzen des schmeichelhaften Alterns in gepflegtem Ambiente waren da auszumachen und versuchten, Ingeborg hinter vorgehaltener Hand davon zu überzeugen, ihren Hermann einem dieser Heime zu überantworten.
    Der Arzt zählte auf, was bei Hermann alles kaputt sei. Sein Sprechen wäre ausgefallen, die Schließmuskelkontrolle, die meisten seiner Bewegungen und sein Denken und Wissen, das alles wäre durch den Schlaganfall in Mitleidenschaft gezogen worden. Ingeborg verstand kaum, was der Mann im weißen Kittel da sagte, wusste aber, dass Menschen, deren Augen zu eng zusammen stehen, nicht unbedingt vertrauenswürdige Geschöpfe sind. So was wird nur von Alkoholikern oder Mischlingshunden gezeugt. Von so einem Mischlingshund mit eng zusammenstehenden Augen wurde Ingeborg als Mädchen einmal gebissen, und ein Trunkenbold mit ebensolcher Gesichtsauffälligkeit ist ihr einst beim Schützenfest zu Nahe getreten, so dass Hermann »aus dem Hals« sprechen musste, um den Wüstling zu vertreiben und ihm eine Prise Anstand mit auf den Weg zu geben. So einem Geschöpf also ist auf keinen Fall zu glauben, wusste Ingeborg also, nachdem sie in ihrer Erfahrungskiste gekramt hatte, und so lag die Entscheidung nahe, Hermann mit nach Hause zu nehmen, um ihn bis zu seinem Ende dort pflegen zu können.
    Ingeborg hatte außerdem ein einschneidendes Erlebnis, als sie von eben jenem Arzt mit den zu weit zusammenstehenden Augen überredet wurde, ein Seniorenheim zu besichtigen, das er ihr zur Unterbringung Hermanns empfehlen könne. Er hatte sie überredet, sich das mal anzusehen, einfach nur mal so, und Ingeborg hatte irgendwie die Kraft gefehlt, ein »Nein« über die Lippen zu pressen, da sie ihren Hermann zu Hause haben wollte. Diesen Willen hatte sie, konnte ihn aber zum passenden Zeitpunkt nicht artikulieren. Sie war es in ihrem Leben nicht gewohnt gewesen, viel Widerspruch zu leisten.
    Kurz darauf also saß Ingeborg mit dem Heimleiter in einem warmen Büro, und der Mann, der ihr gegenübersaß, versuchte, mit warmen Worten und heißem Kaffee Überzeugungsarbeit zu leisten. Er schilderte die angenehme Wohnsituation, den hohen Pflegestandard und die wunderbaren Freizeitmöglichkeiten. Aber Ingeborg merkte sehr schnell, dass er an Hermanns Bedürfnissen vorbeiargumentierte, denn was sollte der vom Schlag angefallene Hermann mit christlichen Liederkreisen, ehrenamtlichen Zeitungsvorleserinnen und der ewig grünen Parkanlage vor der Haustür,

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