Trisomie so ich dir
reife Kirschen. Plöp, plöp, plöp machen die reifen Kirschen, wenn man sie vom Baum zerrt. Ingeborg sieht dem jungen Mädchen hinterher, wie sie da so tänzelt und wirkt, als sei Unheil ein Wort, das es in ihrem Universum nicht gibt.
Zwei Tüten hängen an ihren Armen herab. Es sind diese typischen Arme, die Frauen haben, die schon in jungen Jahren auf den Feldern Kartoffeln ernteten, so genannte Feldarme. Weißes Fleisch, leicht dicklich, keine erkennbaren Muskeln und ein Lappen Winkfleisch in der Größe eines handelsüblichen Schnitzels, der an ihrem hinteren Oberarm mal mehr und mal weniger rosa, immer aber schlaff herabhängt. Die Tüten an ihr machen Sinn, denkt Ingeborg auf dem Heimweg. Sinnvolles Tütentragen mit Feldarmen, das ist eines der letzten Dinge, die sie tun kann für sich und ihn. Auf dem Weg nach Hause denkt Ingeborg an das, was zuhause so rumliegt. Wäsche, Altpapier, Hermann. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, meine Liebe, aber ich habe eine scheiß Angst vor dem Sterben«, hat er mal gesagt. Tot sein könne ja jeder, hat er dann gemeint, aber stilvoll sterben, das könnten nur die wenigsten. Ja, ja, der Hermann …
Als Ingeborg zuhause reinkommt, riecht es so, wie es bei alten Menschen riecht, immer nach ungewaschenen Sofakissen, ein bisschen zu schimmelig, um als Neutralgeruch durchzugehen, und mit einer Nuance Kartoffelwasser versehen.
Hermann atmet schwer. Aber er atmet. Solange er atmet, ist er bei Ingeborg. Seine neuen Medikamente machen seinen Atem zu einer chemischen Wolke, die den Raum erfüllt wie nichts Gutes. Nichts Gutes geht um, das merkt Ingeborg, als sie Hermann ansieht, der mit weit aufgerissenen Augen nach atembarer Luft schnappt, manchmal wirkt wie ein Fisch am Ufer, wie er da so starrt und schnappt, und er liegt da, und manchmal trifft sie sein Blick, aber meistens kommt da eine unglaubliche Leere aus diesem Blick, der einfach an ihr vorbeischlendert. Diese schlendernde Leere verbindet Ingeborg dann gerne mit Erinnerungen. Manchmal sind das ganz kleine Erinnerungen, die auch völlig aus dem Kontext des sonstigen Zusammenlebens gerissen werden. Hier eine kleine Umarmung, ein Geschehnis aus Sexualität und Harmonie, ein Gespräch, das sich traute, in der menschlichen Tiefe zu bohren, dort ein Streit, eine zugeworfene Tür und die Rückkehr eines Mannes, der nach Bier roch und einen unglaublich schönen Strauß Rosen mit sich führte. Das alles wirft Hermann ihr hin mit der Fülle der Leere seines Blickes.
Hermann und Ingeborg sind seit fast 60 Jahren verheiratet. Das Leben war bis vor kurzem ein gutes Leben, weil es leise und unauffällig war. Ingeborg und Hermann hatten keins dieser Leben, das nah am Bierfass gebaut war, nein, es war eher so ein Leben, in dem sich die Beteiligten jeden Morgen auf die immer gleiche Art und Weise anziehen und auch jeden Abend auf die umgekehrte Art und Weise auskleiden. Ein Leben, in denen die Beteiligten stets einen Fuß vor den nächsten setzen, früher ging das schneller, das mit den Füßen, heute manchmal gar nicht mehr. Es war ein Leben, auf das man zurückgucken kann und sich fragt, was da eigentlich los war, in diesem Leben, weil es mit wenigen Höhepunkten gefüllt war. Aber Ingeborg wird deswegen nicht traurig, nein, der Blick in die Vergangenheit und die Unauffälligkeit ihres Lebens machen sie sogar sehr zufrieden. So ein lautes und schrilles Leben, das hatten die anderen, für Hermann und Ingeborg war immer nur die Kontinuität wichtig. Weiter. Immer weiter ging dieses Leben, eher in die Länge als in die Tiefe.
Und jetzt liegt er hier und stirbt. Einfach so und in einer Geschwindigkeit, dass man ihm dabei zusehen kann. Das tut weh, dieses Zusehen beim Sterben, aber Ingeborg guckt genau hin, wie Hermann stirbt. Sie registriert jede seiner körperlichen Veränderungen und speichert alles ab. Jede noch so kleine Kerbe in seinem Gesicht, jedes Röcheln, dass anders klingt wie das Röcheln des Vortages, wird von Ingeborg aufgesaugt. Schließlich ist Hermann ihr Mann, und eine gute Ehefrau begleitet ihren Mann auch in diesen Stunden, in denen die Luft so dünn ist wie sie unsichtbar ist.
Das mit dem Sterben ging los, als Hermann einen Schlaganfall erlitt. Sie saßen beim Mittagessen, die Ingeborg und der Hermann, und er schlürfte langsam Suppe, langsam und laut, und jedes intensive Schlürfen, dass sie damals nervte, vermisst Ingeborg heute zutiefst. Heute schlürft Hermann nicht mehr. Heute liegt er nur da und starrt in
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