Trisomie so ich dir
ganze Arbeit, die würde doch liegen bleiben. Niemand reagierte auf den Schreienden, der sich aber auch nach einer halben Minute Gebrüll wieder seinem Schicksal als Schraubenwerfer fügte und einfach weitermachte mit seinen monotonen Verrichtungen. Roy sitzt also jetzt in diesem Taxi, und wieder entfernt er sich von Solveig. Diese unbewussten Minuten des passiven Verschwindenmüssens waren für Roy wie ein rasanter Übergang vom Hochsommer in den Spätherbst. Und jetzt fährt er Richtung Winter, nämlich nach Hause. Wenn man so schnell durch alle möglichen Jahreszeiten geschleudert wird, kann man schon mal rasant altern, denkt Roy und leckt an seiner Handinnenfläche, den Rest von Solveig aufleckend, den winzigen Rest, den sie dort hinterlassen hat. Er fühlt sich so richtig scheiße behindert, behindert vom Leben, und warum soll er dann nicht, wenn er ohnehin schon behindert ist, an seiner Hand lecken, um es für jeden auch so aussehen zu lassen, als sei er behindert. Roy ist ganz bei sich, ganz in seiner Hand, der Kontakt seiner Zunge und seiner Handinnenfläche begeistert ihn so sehr wie Seifenblasen Kinder begeistern. Die fette Fahrerin begeistert das hingegen eher weniger. »Spuck mir hier bloß nichts voll, kleiner Mann.« Sie ist von ihrem ganzen kümmerlichen Dasein, von ihrer Rolle als asoziale Taxifahrerin so begeistert wie blinde Kinder von Seifenblasen. Roy ignoriert ihre stumpfdumme Aussage und ist weiterhin intim mit seiner Hand.
Das Taxi steht an einer roten Ampel und Fußgänger passieren. Roy findet nun, dass er genug an seiner Hand geleckt hat und sieht draußen die Stadt warten. Das Taxi brummt, die fette Frau kaut, Roy ist nach irgendwas zwischen Würgen und Er würgen, aber er bleibt da sitzen, wo er sitzt, und das Radio plärrt Schlagersüßigkeiten. Überall, wo ich nicht bin, findet scheinbar Leben statt, denkt Roy auf dem Weg zu seiner dezimierten Familie, und dann keimt erst ganz verschwommen der Wunsch zu verschwinden auf, und der Wunsch wird immer deutlicher, und Roy glaubt sich noch nie so schnell bewegt zu haben, als er den Gurt löst, gleichzeitig die Tür öffnet und plötzlich im Verkehr steht. Mittendrin im Geräusch. Zwischen stehenden Autos. Und dann läuft er los, rennt, und er fühlt, wie etwas Schwerfälligkeit von ihm abfällt. Die fette Taxifrau brüllt ihm was hinterher, was er nicht mehr wahrnehmen kann. Alle Reize dieser Straße dringen ungefiltert in Roys Gehirn, aber seinem Gehirn ist das egal, denn es ist gerade damit beschäftigt, Roys Körper zu einem (nach seinen Möglichkeiten) raketenartigen Geschoß zu machen, das Autos und Passanten ausweicht und wie eine Wärmeleitrakete ein noch unbekanntes Ziel ansteuert. Die Leute gucken dumm, Roy guckt Royblicke zurück, und ihm ist egal, was die Leute denken. Er rempelt unabsichtlich einen Schüler an, der sich gerade auf dem Bürgersteig mit seinen Freunden eine Zigarette teilt. Der Typ muss einen Ausfallschritt machen, um nicht hinzufallen, versucht, sich die Coolness zu bewahren und brüllt Roy ein »Geh malen, Kackmongo!« hinterher, und seine Freunde lachen, und Roy lacht auch, denn es ist ihm ganz egal, was sein Umfeld von ihm will, er will rennen, will seinen Körper schwitzend machen, will Gedanken dadurch zerschmelzen. Wenn man weg will von da, wo oder wer man ist, dann ist denken manchmal das Schlechteste, was man tun kann. Das weiß Roy, und er rennt, rennt weg von seinem Ist-Zustand in einen möglichen Soll-Zustand.
Irgendwann hat auch das Rennen ein Ende, und Roy schlurft seine behinderten Schuhe über den Asphalt. Die Stadt ist ein lebendiger Ameisenhaufen und seine Langsamkeit ein Grund für viele, ausweichen zu müssen. Blicke aus Mitleid und bewusster Ignoranz streifen ihn. Roy verlässt die Stadt durch den Hinterausgang, da ist der Stadtpark, der sich in seiner grünlich stinkenden Frische vor ihm erstreckt. Leute führen ihren Hund aus. Es ist irgendwas mit 11 Uhr vormittags. Rollschuhmädchen fahren Rollschuh, als hätten sie nie etwas anderes getan. Frauen schieben Kinderwagen, treten Mountainbikes oder brüllen in Handys. Irgendwelche Typen tun das auch und lautieren wild durch die Gegend. Da ist wieder das mit den Worten, denkt Roy, die Leute schreien sich an und verstehen sich trotzdem nicht.
Wieder fühlt er sich in seiner Schweigerei bestätigt, und Roy sieht eine öffentliche Toilette, von der er sich magisch angezogen fühlt. Er schließt die Tür hinter sich, und hier drin stinkt es nach
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