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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Pennerpisse und der Unausweichlichkeit von diversen Verdauungsvorgängen. Das ist Roy aber egal. Es ist kühl und dunkel hier drin, und vor allem ist diese öffentliche Toilette eine Kapsel, die Distanz zur Draußenwelt schafft. Das ist jetzt wichtig, innen und außen zu trennen. Roy denkt an seinen Vater, der jetzt tot ist, und an seine Mutter, die auf ihn wartet, damit sie ihn mit ihrer derben, falschen Mütterlichkeit füttern kann. Was soll er da noch?
    Der Tod seines Vaters hat Roy klar gemacht, dass das Leben eine kurze Phase zwischen Wachsen und Vergessen zu sein scheint. Er setzt sich auf die Kloschüssel. Weil das hier jetzt das Leben ist und höchstwahrscheinlich sogar das einzige, was ihm zusteht und was er je bekommen wird, beginnt er zu masturbieren. Es ist wie Yoga mit dem Geschlechtsorgan, Penisyoga.
    Diverse Stunden später. Roy blinzelt verstört in die Dunkelheit. Es ist ein paar Grad zu kalt, um mit entblößtem Unterleib auf einer öffentlichen Toilette mit halboxidiertem Metallrand zu hocken, fällt ihm auf. Schritte, die sich nähern und dann stehen bleiben. Eine Urinstrahl, der unsichtbarerweise ins Metallbecken plätschert. Schritte, die sich entfernen. Roy weiß nicht, wie spät es ist, nur dass er ein wenig geschlafen hat. Beim Masturbieren eingeschlafen. Roy hat heftig masturbiert. Bis die Dunkelheit und die Müdigkeit sich einmischten. Zweimal, weil er Bock drauf hatte und ohnehin sexuell aufgeladen war, und dann diverse Male aus Langeweile. Dann hat er einfach gewartet und sein Gehirn auf Leerlaufprozesse gestellt, denn was sollte man in seiner Situation schon denken.
    Seine Hose befindet sich noch unterhalb der Kniekehlen, und Roy zieht sie hoch. Er öffnet die Tür und schreitet in den duftenden Park. Hinter ihm Pisse, vor ihm die klare Nacht. Es ist stockfinster. Draußen zirpt irgendwas. Insekten oder so, denkt Roy. Er geht ein paar Schritte in eine wahllose Richtung. Die Laterne, die eigentlich den Platz vor dem Toilettenhäuschen beleuchten sollte, ist defekt. Roy läuft vorsichtig durch die Dunkelheit, die Arme hält er ausgestreckt vor sich, um eventuelle Hindernisse, die man nicht sehen kann, zu erfühlen. Aber da ist nichts, was ihn hindert, immer weiter zu gehen, und so geht er, und da hinten erkennt er deutlich ein Licht, und er geht darauf zu, weil Licht, so weiß Roy, Licht deutet auf Leben hin.
    Die Lichtquelle, auf die Roy zugeht, ist eine neben einer Bushaltestelle platzierte Straßenlaterne. Roy fühlt sich wie ein Insekt, das von Helligkeit herangelockt wird, und dann steht er neben dem Bushaltestellenhäuschen, und er erkennt, dass in diesem offenen Plexiglaskäfig eine alte Frau sitzt. Sie hat Roy noch nicht bemerkt, und dann sieht sie ihn doch und sagt mit brüchiger Stimme: »Hallo, hallo, Sie, können Sie mir bitte helfen?« In ihrer Sprechfrequenz schwimmen auch ein wenig Angst und Verzweiflung mit. Roy denkt daran, einfach weiter zu gehen, er denkt laut allgemein zugesprochenem Behindertenbonus stünde es ihm zu, einfach mal geschmeidig wegzulauschen, niemand würde wirklich Hilfe von einem Mann mit offensichtlichem Assistenzbedarf erwarten, aber die Frau krächzt noch mal: »Hallo, Sie da neben der Haltestelle, bitte, können Sie mal kurz her kommen …« Roy erstarrt und traut sich nicht zu regen, doch dann beginnt die alte Frau plötzlich ein lärmendes Schluchzen und ein bitterliches Weinen und presst Worte und Wortfetzen wie »bitte« und »… ein bisschen Hilfe …« hervor, und Roys Herz wird dadurch angerührt, sein Mitgefühl aktiviert. Seltsam, denkt er, dass dieses Weinen seine Empathie durchschüttelt, klingt es doch wie das, was es ist, das Wehklagen von Irgendwem über irgendein ihm fremdes Thema.
    Endlich darf er auch mal Mitgefühl haben und muss nicht der Empfänger dieses sehr oft vorgetäuschten Elends sein. Seine Empathie ist echt, denn wenn sie es nicht wäre, er wäre einfach wieder im Schutz der Dunkelheit verschwunden. Roy geht auf die Frau zu, und als sie seine offensichtliche Behinderung erkennt, macht sie zunächst ein leicht erschrockenes Gesicht, welches aber dann sehr schnell in einen Ausdruck aus freudiger, aber irgendwie melancholisch-mitfühlender Erregung wechselt. »Ich bin hier umgeknickt, mit dem Fuß, verstehst du, der Fuß ist kaputt«, brüllt die Frau, weil sie denkt, wenn schon einer mit Trisomie 21 Optik daherkommt, dann ist der garantiert auch hörgeschädigt, »kannst du mir aufhelfen, wenn der Bus kommt, und mich

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