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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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empfindet Roy das als Übergriff. Beim hurtigen Armwegziehen tritt etwas Sabber aus seinem Mund, und seine Zungenspitze zeigt sich durch die leicht geöffneten dicken Lippen. Roys Sabber schickt sich an zu rinnen, das Kinn hinab, und ein kleiner See aus Spucke, auf dessen blasenschlagender Oberfläche sich Roys Seele spiegelt, bildet sich auf seinem jeansbehosten Oberschenkel. Solveig schaut jetzt auf den Schreibtisch, der für Roy wie eine Barrikade wirkt, die zwischen ihm und Solveig und dem anderen Mitarbeiter errichtet wurde. Zum Schutz vor zu viel Nähe oder so. Roys Gehirn schlägt Funken, brennt mit seinen unkontrollierbaren Gedanken durch. »Roy«, sagt der Typ jetzt noch mal und zwar etwas lauter, und Roy wird aus seiner Hypnose gezerrt wie ein tiefenentspannter Buddhist aus der Yogabetäubung. »Roy, dein Vater ist heute morgen gestorben …« Das Schweigen, das Roy ohnehin bevorzugt, ist jetzt im ganzen Büro zugegen. Sekunden fallen auf den Boden und zerbrechen dort. Solveig steht in der Ecke, man sieht, wie das alles zuviel für sie ist. Roy lächelt sie an, die mit ihren Tränen kämpft und schließlich verliert …
    … sie stehen und sitzen ein wenig da, diese Menschen, von denen nur einer zu trauern hat und die anderen es so unglaublich ernst meinen mit ihrem falschen Mitgefühl, das sie aber nur zeigen, weil da einer ist, der noch drauf guckt. Solveig weint wirklich, alles zu viel, nicht nur der Tod, der unvorhergesehene und der mitleidig lächelnde Roy, nein, auch ihr beschissenes Restleben macht sie weinen und sie lässt es raus, weil es jetzt grad passt, niemand wird dann anklagend fragen: Warum hast du denn geweint? Roy versteht, warum sie weint, der andere Mitarbeiter ist von ihrem Gefühlsaufkommen überfordert und ergreift die Möglichkeit sie anzufassen, worauf er schon lange etwas scharf ist, und er fasst ihr tröstend auf die Schulter. Solveig nimmt das zum Anlass, mit dem Weinen aufzuhören, und der Mann lässt sie wieder los, woraufhin beide ernst Roy ansehen, der da sitzt wie eine noch nicht getroffene Entscheidung. Die Worte hat er verstanden, der Tod des Vaters, die Ernsthaftigkeit der Dinge, das wurde ihm erzählt, aber er schaut Solveig an, in einer Art, die sagen will: ist doch nicht so schlimm, das alles, Hauptsache, wir haben uns, und Solveig streichelt dem Roy über den großen Kopf, und es fühlt sich irrsinnig gut an, die kleinen Hände auf seinen Haaren, die tröstenden Bewegungen, die ihn stimulieren.
    Der Mann am Schreibtisch ruft ein Taxi, und fünf Minuten vergehen in schweigendem Warten, im raschelnden Leiseatmen, im Ausharren und für Roy im absoluten Genuss, die Hand von Solveig auf seiner Kopfhaut zu spüren. Irgendwann zieht sie ihn hoch, an seiner Hand, ja, sie hält seine Hand. Begleitet ihn nach draußen, dort, wo sonst immer der Bus steht, steht jetzt ein kleines Taxi. Vorn sitzt ein Fleischberg, der Unsympathie ausstrahlt. Der unsympathische Fleischberg bückt sich und stößt die Beifahrertür auf. »Na, dann kommen se mal rein, junger Mann …« Die Frau sieht so grausam ungesund aus, wie man wohl nur hinter einem Taxilenkrad grausam ungesund aussehen kann. Sie trägt eine speckige Taxifahrerlederweste, mit der solche Geschöpfe scheinbar geboren zu werden scheinen. Ihr Gesicht entstellt sich durch den Versuch eines Lächelns, um sich dann wieder in die normal wabbelige Ausgangsposition zu begeben. Roy drückt zart Solveigs Hand, ganz leicht, und er meint, auch ihrerseits einen Händedruck zu vernehmen. Roy ist glücklich, ganz kurz, aber vollends. Er will sich sofort über seine Handinnenfläche lecken, nur noch eine Prise der schönen Solveig einatmen.
    Solveig aber steckt ihn in das Taxi, die rotgesichtige, fette Fahrerin kaut auf irgendetwas herum, was sich wohl schon lange in ihrem Mund befindet, zumindest riecht es so, aus dem Radio strömen putzmuntere Schlagerslogans in das Innere der muffigen Fahrgastzelle, und ab und zu guckt sie Roy von der Seite an, der nur stumpf geradeaus schaut, den Mund ein stückweit geöffnet, die dicke Zunge zwischen die Lippen gedrängelt. Alles lief wie in einem Film, in dem Roy zwar mitspielte, aber nicht eingreifen konnte. Der Mitarbeiter sagte, Roy solle jetzt bei seiner Mutter sein, die weinende Solveig rief ein Taxi, das innerhalb von fünf Minuten vor der Werkstatt stand, und die anderen warfen unbeeindruckt Schrauben in Eimer. Irgendjemand schrie noch, warum Roy denn jetzt schon gehen dürfe, so mitten am Tag, die

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