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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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flöge ja niemandem einfach so in den Schoß wie ihr gewöhnlicherweise Penisse in den Schoß fallen. Da müsse sie heute doch mal eine Nacht mit Büchern verbringen, meinte sie. Also ging Solveig alleine aus. Alle Nervenenden brüllten: »Vollrausch!« Und so kam, was kommen sollte.
    Irgendjemand hat einmal gesagt, dass die Realität im Alkoholrausch eine verbesserte sei. Solveig merkte schnell, dass es sich um die gleiche Realität wie vor dem Rausch handelte, nur die Gefühle dazu waren andere. Alle Gefühle waren wattiert. Im Vollrausch. Es hat sich erledigt, so viel hat sich erledigt. Veni vidi Vodka – sie kam sah und … Filmriss. Als der Film dann wirklich riss, war Solveig an einem Ort, den sie nicht näher bestimmen konnte. Stimmen waren da, eine Bassdrum war auch da, glaubte sie, irgendetwas rhythmisches auf jeden Fall, und ein Taumel, der die Unmöglichkeit eines klaren Blickes, bedingt durch klare Schnäpse, herstellte. Und ganz viel Bewegung, Bewegung, die einen einfach so mitriss, und wenn man in der Bewegung gefangen war, war ohnehin egal, welche Richtung sie hatte.
    In Solveigs Kopf findet, während sie etwas tut, was sie tanzen nennt und von außen betrachtet aussieht wie unrhythmische Sportgymnastik, eine Diashow statt. Schnellstens aufeinander folgende Bilder, die ihr Leben sein sollen, und jedes Bild fühlt sich an wie eine Lüge, obwohl jedes Bild die Realität widerspiegelt. Der Rausch läßt die Bilder eskalieren. Es ist gut, wenn die Bilder eskalieren, denkt Solveig und tanzt am Abgrund ihrer Befindlichkeit. Irgendjemand sagte einmal: »Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Dann ist es jetzt wohl soweit, dass man sie zu Grabe tragen kann, dass das, woran man sich festhalten und klammern konnte, vom Wirbelsturm des Schicksals entwurzelt und in die Unendlichkeit fortgeweht wird. Es gibt viele Wörter für solche Abende, ein wichtiges ist »egal« und ein weiteres wichtiges »mehr«. Und Solveig schaufelt immer mehr egal in sich rein.
    Später sitzt sie wie ein anonymer Alkoholikerroboter wieder an der Bar. »Ich hab kein Bock auf diesen Pathos, lieber noch’n Bier …«, brüllt Solveig irgendwann um eine Uhrzeit, zu der sie peinlich berührt von jemand anderem wird und sich Gedanken macht, die irgendwie gar nicht mehr in ihrem Kopf stattfinden. Da sitzt so ein Typ, ähnlich betrunken wie sie selbst, vor ihr und erzählt ihr aus seinem spannenden Leben als Comiczeichner oder Bauarbeiter. Solveig hört ihm nicht zu, sieht nur, wie sich sein Mund bewegt, irgendwelche Botschaften aussendend, die ihn spannender, attraktiver und interessanter machen sollen, aber sie ist ohnehin so ohne Hirn, dass sie kaum seine gesprochenen Worte zu sinnvollen Zusammenhängen kombinieren kann, aber er redet, sie nickt und trinkt. Die Abwesenheit irgendwelcher Gefühle spürt der Typ nicht mehr, dafür aber die Anwesenheit von Brüsten und von einem Mund, der zwar nicht antwortet, aber imstande ist, ungemein sexy Getränke zu schlucken. Das inspiriert den jungen Mann zu dem Angebot, Solveig nach Hause zu begleiten, und sie fängt einfach an zu weinen.
    Das passiert einfach so. Tränenfluss und Bassdrum. Da kommt der Mann, wird gefühlspathetisch und macht so eindeutige Angebote, hinter denen Abgründe epochalen Ausmaßes lauern, weiß Solveig. Und wenn man wie sie ein schlechtes Leben in der Geschichte der Liebe vorweist, dann kommen eben die Mädchentränen aus dem Mädchenkopf. Ganz natürlicher Vorgang. Da ging was schief, und jetzt ist sie so besoffen und in ihrer eigenen Vorsicht so verhaftet, dass ihr Weinen als die einzig mögliche Reaktion auf diesen Mann und sein Angebot einfällt. Sie hätte auch einfach anfangen können, zu lachen, aber irgendwie ist mehr Trauer als Lustigkeit in ihrem Körper, und so heult sie einfach, will alles, was in ihr ist und sie lähmt, mit diesem Tränenbach mitreißen, alles soll raus, der ganze Scheiß, der belastet, diese blöden ätzenden Behinderten, die Scheißliebe, die beschissene Wohnsituation, die nicht vorhandene Freundschaft, die absolute Abwesenheit von Liebe, alles soll mitgezerrt werden mit diesem Tränenfluss, und Solveig heult. Heult wie ein Kind, dem unfassbar Krasses widerfahren sein muss. Einige Menschen gucken sich zu ihr um, aber niemand kennt Solveig hier, also wird es auf den Alkohol und auf ihre Weiblichkeit geschoben, dass sie derartige Emotionen in dieser gezeigten Heftigkeit ans Tageslicht rauschen lässt.
    Der junge Mann guckt erstaunt, und Solveig heult.

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