Trisomie so ich dir
Mettendchen, und die Welt ist gut, und Ingeborg läuft, atmet und schafft Distanz.
Ach komm, Gott, lass die Leute laufen, denkt Gott und spürt, dass Laufenlassen das einzige ist, was dieser Welt noch zuträglich ist. Hilft zwar nichts, ist aber zuträglich. Solange sie in Bewegung bleiben, solange haben die Menschen das Gefühl, dass noch irgendwas passieren kann, und auch wenn dann nichts passiert, so haben sie sich wenigstens bewegt. Und so schleichen und rennen sie durch die Tage, ausgestattet mit minimalistischen Bewusstseinen und mit unklaren Routen und Zielen. Das ganze wirkt wie ein anarchistischer Ameisenhaufen, durchgeknallt, zersprengt, orientierungs- und richtungslos. »Die Königin ist tot«, schreien einige, andere »Es lebe die Königin«, und jeder macht sein Ding. Sie laufen ziellos umher, navigiert durch Impulse. Und Gott sah, dass alles irgendwie scheiße war. Und manche denken: Jeder für sich und Gott für uns alle, und Gott denkt: Jeder für sich und Gott gegen alle.
Ich rechne mein Leben nicht in Lohnen und Nicht-Lohnen ab
Es ist der frühe Morgen des Tages, an dessen Abend Ingeborg das Haus verlässt, um zu einer Freiheit zu gelangen, die ihr passen soll wie dieses Kleid, welches Hermann ihr mal kaufte, welches er einfach so aus einem Regal riss und es ihr reichte, und sie zog es an und glaubte wieder an Zufall und dass es gut war, dass er hier war, dieser Hermann. Welcher Mann kann das schon, einfach so ein Kleid in der passenden Größe seiner Frau aus einem Regal zerren und damit die Welt in Ordnung machen, zumindest für die Dauer kleiner Momente.
Beim Sterben ist jeder allein, wird dem Mann klar, und er würde echt gerne weiteratmen, aber er fühlt, dass da einige Säcke auf seiner Brust liegen, und womit sie gefüllt sind, weiß er auch nicht, aber sie liegen da auf ihm und werden von Sekunde zu Sekunde schwerer. Erde wem Erde gebührt.
Gott ist mal wieder gelangweilt, und das, was hier passiert, ist sein Alltagsgeschäft. Er hat Pädophile, Nazis und Volksmusiker erfunden, ihm ist also einiges an Humor zuzutrauen, mag man meinen, aber jemanden umfallen zu lassen, das passiert täglich, das ist nur Statistik, da wird ein Haken drangemacht, und der Vorgang ist fertig. Dass die Menschen immer so ein Spektakel um ihre Tode machen, nervt Gott gewaltig.
Es ist Freitag und der Tag noch ein junges Ding. Gerade schaute er noch in den Spiegel, der Mann, und rasierte sein lustiges Gesicht, tat Schaum auf die Wangen und an den Hals und griff zur Klinge, die er dann in einer aus jahrelangen Erfahrung kombinierten Druckgrad aus Härte und Sanftheit über sein Gesicht gleiten ließ. Die Luft, so erschien es dem Mann, war schon den ganzen Morgen, seit dem Aufwachen, ein wenig dünn gewesen, irgendwie fühlte er sich, als atmete er durch einen Filter, und ein leichtes Schwindelgefühl und Schulter- sowie Armschmerzen nicht nachvollziehbarer Herkunft machten sich an ihm zu schaffen. Er schob es auf irgendwas mit Klima oder Alter, was ja schon mal vorkommt, Klima oder Alter oder das einfache Erleben eines Scheißtages. Mit Scheißtagen kennt er sich aus, der Mann. Wenn er die Scheißtage seines Lebens denen, die er wirklich gern erlebt hatte, gegenüberstellt, so überwiegen die Scheißtage in einer erhabenen Deutlichkeit. Dieser Tag ist noch nicht alt und schon scheiße, dachte der Mann und rasierte sein lustiges Gesicht, welches unter den Rasurbewegungen nachgab. Die Klinge fuhr über die faltige Haut mit den grauweißen Bartstoppeln darin und hinterließ Straßen im Gesicht des Mannes, und wenn der Arm und die Brust nicht so geschmerzt hätten, wäre das vielleicht der Punkt gewesen zu diesem Tag zu sagen: »Ach komm, du kleiner Freitag, jetzt hast du deinen Spaß gehabt, jetzt bin ich mal dran. Jetzt will ich mal leben, nicht immer nur diesem Druck ausgesetzt sein.« Aber dieser Freitag war anders drauf, er war ein fieser, krasser, böser Freitag, und sein Datum wollte ein Todestag sein, zumindest hier, und er, der Freitag, hatte einen Myokardinfarkt mitgebracht, dem er dann dem Mann überreichte.
Ins Bad hat er es also noch geschafft, und nach zweimaligem Entlanggleiten der Rasierklinge über seine linke Wange meinte die Schwere der Säcke auf seiner Brust so stark werden zu müssen, dass die Atemluft ausbleibt, und der Mann sieht sich langsam im Spiegel ausbleichen. Zunächst sah er sein eingeschäumtes Gesicht in aller Deutlichkeit, und dann wurde es immer undeutlicher, wie dieser Punkt, den
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