Tristan
hellgelb leuchtete. Das Zimmer hatte nur ein kleines Fenster, das sich nicht öffnen ließ. Am Tag schien schwaches Licht durch die matten Scheiben, jetzt in der Nacht war es nichts als ein schwarz glänzendes, fleckiges Viereck in der Wand, darunter ein schmales Regalbrett, auf das jemand Tonfiguren gestellt hatte. Courvenal erkannte zwei Ringer und eine kniende Figur. Die Gestalten waren in ihren Bewegungen nur angedeutet, die Köpfe hatten keine Gesichter. Das Schönste an ihnen war, dass sie ganz ruhig blieben, als der wütende Wind Regenschauer des draußen tobenden Sturmes gegen das Fenster drückte.
Das Feuer im Kamin brannte, als würde es durch den Schlot nach unten gedrückt. Der Mönch stand immer wieder von seinem Stuhl auf und legte ein paar besonders trockene Holzscheite nach, um den Flammen Kraft zu geben, sich gegen die einfallenden Windböen zu wehren. Danach ging er an seinen Tisch zurück, zu der noch immer leeren Seite seines Heftes. Er spürte mit den Fingerkuppen die glatte Oberfläche. Sie war nicht so geschmeidig wie geschabtes und geglättetes Pergament, aber der Gedanke und das Gefühl, nicht gegerbte Tierhaut unter den Händen zu haben, sondern die Fasern pflanzlicher Blätter, die sich wie von Natur aus zur Beschriftung anboten, versetzte Courvenal wieder und wieder in eine Stimmung, als würde sich in der Welt bald vieles ändern, als würden ganz neue Dinge geschehen, nur weil es diese Blätter gab.
»Papyrus«, murmelte er voller Bewunderung und strich mit der flachen Hand noch einmal über das Blatt. Er hatte das Papyrus aus Sizilien, und der dortige Händler, ein Grieche namens Phileneaos, bekam es aus Afrika.
Er tauchte seinen fein säuberlich zugeschnittenen Rohrstift in das Tintenfläschchen und schrieb mit fast schwarzer Sepiafarbe an den oberen Rand des Blattes: Narratio 120/1. Gleich daraufhob er den Stift ab und bemerkte, dass sich bei der ersten Eins ein Tropfen gebildet hatte. Es sah aus, als hätte er geschrieben: 920/1. Schon wollte er den kleinen Schwamm zur Hand nehmen, um den Tropfen wegzutupfen, als er sich mit einem leichten Kopfschütteln dafür entschied, die Zahl so stehen zu lassen, wie sie erschien. Was kümmerte ihn der Unterschied zwischen einer Eins und einer Neun. Es sollte die Jahreszahl sein, doch auch da war doch alles ungewiss. Wer hatte denn mit dem Zählen der Jahre begonnen? Die Römer? Die Griechen? Die Ägypter? Die Syrer? Jetzt kamen auch noch die Normannen hinzu mit ihrer Zeitzählung. Jeder führte seinen eigenen Kalender, wie es ihm gerade passte. Wer weiß schon, wie oft bei einer Abschrift aus einer Eins eine Neun oder Sieben geworden war? All die Mondtabellen und Jahresurkunden, die Courvenal auf seinen Reisen durch die Städte und Klöster gesehen hatte - nirgends war die Gewähr zu finden, dass es eine Einheitlichkeit gab. Die Sonne ging jeden Tag auf und wieder unter, darüber gab es keinen Zweifel. Was aber, wenn der bischöfliche oder gar königliche Chronist einmal einen ganzen Tag verschlafen hatte oder bei einem Saufgelage niedergeschlagen wurde, nur weil man seinen Bordellsilberling rauben wollte, was er verschweigen musste und weshalb er einen Tag im Kalender ausließ, hochoffiziell, um sein Versagen nicht eingestehen zu müssen - was dann?
Über allem herrschte die Zeit mit unumstößlichen Gesetzen, und jeder Herrscher versuchte, sie nach seinen Vorteilen einzurichten und festzulegen: Auch das würde Tristan, sein Zögling, eines Tages lernen müssen. Sein Leben begann ja eben erst. Bis jetzt war alles nur Spiel und Traum gewesen. Von nun an würde es nur noch Wissen und Täuschung geben, Erlebnis und Erfahrung, Wahrheit und Glauben - und ein paar versehentliche Tintenkleckse.
Conoêl - Tristan, schrieb Courvenal lächelnd unter das Datum und sah wieder die Neun statt der Eins: Sie lebten im zweiten Jahrtausend, das allein war wichtig. Er dachte an die hundert Silberpfennige im Monat, die ihm Rual für die Erziehung Tristans versprochen hatte. So viele Münzen waren ihm noch nie für einen Dienst geboten worden. Längst hatte er sich ausgerechnet, wie viel Dukaten oder Goldstücke im Gewicht das wären, wenn er den jungen Herrn, an dem seinem Vater so viel zu liegen schien, die nächsten Jahre in seiner Entwicklung begleiten würde.
12 aureum notierte Courvenal an den Rand des Blattes, um die Dimensionen des Geldes nicht zu vergessen. 48 Silberlinge schrieb er darunter. Die waren im Norden viel mehr wert als im Süden, daran
Weitere Kostenlose Bücher