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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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um danach seine Predigten für die Abschrift auf Pergament freizugeben. Zwanzig Jahre war er in dem Kloster gewesen, als Knabe dorthin gekommen, nachdem ihn seine Eltern ausgesetzt hatten, weil sie vor Römern oder Hunnen flüchteten. Er erinnerte sich an einen Wegrand, an dem der Karren hielt, und an die Worte: »Sieh mal, was für schöne Blumen! Und ein gelber Schmetterling!« Der Mann, der wohl sein Vater war, hatte ihm einen leichten Stoß in den Rücken gegeben, und schon war er allein gewesen.
    »Nein, nein!«, sagte Courvenal, »so ist es nicht«, und strich in dem Absatz, den er in sein Heft geschrieben hatte, die Worte ist er weder bei sich selbst noch im Anderen bei sich selbst durch. Es geht hier nicht um mich, dachte er, es geht um diesen Jungen, um den ich mich sorgen soll. Ich bin nur ein einfacher Mönch, der gut schreiben und lesen kann, ich spreche einige Sprachen oder verstehe sie zumindest, aber darum geht es nicht … lernt er ihn nicht kennen, schrieb er über die ausgestrichene Zeile und las das Ganze noch einmal in der korrigierten Fassung: Bevor nicht der eigene Körper im Schatten des Anderen sich selbst erkennt, lernt er ihn nicht kennen. Beim Lesen sah er wieder das verzweifelte Gesicht des Mädchens vor sich, das sie von Tristan hatten trennen müssen. Sie rief seinen Namen, als man sie zum Tor führte. In den Augen des Mädchens war ein aufglimmendes Leuchten, ein doppelter Blick, wie man ihn bei Verwirrten finden kann. Der Blick eines Anderen im eigenen Auge.
    Es war tief in der Nacht, als Courvenal sein Heft schloss. Er hatte zwei Seiten vollgeschrieben, bevor er sich auf sein Bett legte. Er hielt noch die Augen offen und staunte über den Tanz der Kerzenflammen und ihren Widerschein, bis sie erloschen waren.
     
    Erinnerung ans Vergessen ~ 85 ~ Florätes Erschrecken
     
    Am nächsten Morgen erkundigte sich Tristan bei Floräte gleich nach Ortie. Er .wollte sie sehen. Floräte blickte verlegen auf den Tisch und war froh, dass ihr Courvenal mit einer Antwort zu Hilfe kam.
    »Das Mädchen ist nicht mehr auf der Burg«, sagte er und tunkte sein Brot in die Schale mit warmer Milch.
    »Dann ist sie am Meer!« Tristans Gesicht hellte sich auf.
    »Dort ist sie auch nicht«, erwiderte Courvenal, »und sie wird dorthin auch nicht zurückkehren, genauso wenig wie auf die Burg. Sie ist bei einer Familie untergekommen jenseits der Hügel, und dort wird sie bleiben.«
    »Was für eine Familie?« - Tristan schaute wieder Floräte an, die dem Blick des Jungen begegnete und sich die Hände zu reiben begann, als würde sie frieren.
    Wieder sprang Courvenal für sie ein. »Eine Familie, die du nicht kennst. Es wird ihr dort gut gehen. Und jetzt wäre es besser, du isst wie alle anderen deinen Brei und denkst nicht mehr an das Mädchen.«
    »Warum soll ich nicht mehr an sie denken?«
    Alle am Tisch schwiegen, keiner sah von seiner Schale auf. Tristans Frage klang im Raum nach wie ein Geräusch, das man überhören wollte. In diesem Moment betrat Rual das Gemach und setzte sich neben seine Frau. Er schien gut gelaunt und achtete nicht auf das Schweigen.
    »Was für ein denkwürdiger Tag«, sagte er und nahm einen Kanten Brot aus dem Korb. »Tristans erster Unterricht. Na, was sagst du dazu, mein Junge? Heute wirst du lesen und schreiben lernen. Courvenal erzählt dir bestimmt auch etwas über die Falken und ihre Aufzucht, und du kannst ihm zeigen, wie gut du schon das Bogenschießen beherrschst.«
    »Langsam, langsam«, beruhigte ihn Courvenal. »So schnell geht das alles nicht. Noch niemand hat Lesen und Schreiben an einem Tag gelernt, und um ein guter Falkner zu werden, braucht es Jahre der Übung und viel Geduld. Doch was das Bogenschießen anbelangt, so ist das wahrlich kein Kinderspiel. Wir werden sehen .«
    »Wenn du willst, Herr, schieße ich dir jede Möwe vom Himmel und treffe jeden Hasen, den du über die Wiese jagst.« Tristan saß plötzlich ganz aufrecht am Tisch und hatte die Ellenbogen auf die Holzplatte gelegt, wie es auch sein Vater tat. »Und Lesen und Schreiben«, fügte er hinzu und lutschte einen Finger ab, »lerne ich vielleicht nicht an einem Tag, gewiss aber in zehn Tagen.«
    »Wie kommst du gerade auf zehn?« Courvenal ließ vom Essen ab und beugte sich vor.
    »Weil es wohl schneller kein anderer schafft.« Tristan blickte seinen Lehrer herausfordernd an.
    »Zehn Tage?«, sagte Courvenal gedehnt und nachdenklich. »Das glaube ich nicht.«
    »Dann lass uns keine Zeit verlieren!«

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